015 - Zombie-Wahn
Die Fahrerin schaltete im letzten
Moment die Scheinwerfer ein, sonst hätte sie den mausgrauen Peugeot im trüben
Licht des Nachmittags kaum wahrgenommen.
Die Landstraße, nur wenige Meter
vom Flußlauf entfernt, war grau und in schlechtem Zustand. Eine breitere Straße
war einen halben Kilometer weiter südlich gebaut worden, die seit kurzer Zeit
dem Verkehr zur Verfügung stand. Daher wurde die alte Straße kaum noch benutzt.
Chantale de Loire hätte trotz der miesen Witterungsverhältnisse
schneller vom Fleck kommen können, doch sie legte keinen Wert darauf.
Absichtlich benutzte sie diese Strecke und fuhr langsamer, als die
Wetterverhältnisse es ihr aufzwangen. Sie wollte trotz des unaufhörlichen
Regens, der seit Stunden dauerte, die Landschaft zu beiden Seiten der Straße
sehen.
Wieviele Jahre war es her, seitdem
sie das letzte Mal in dieser Gegend gewesen war? Einen Moment mußte Chantale
nachdenken, kam schließlich auf zwanzig Jahre und erschrak bei dem Gedanken.
Wohin war nur die Zeit gegangen!
Damals war Chantale de Loire gerade
vierzehn gewesen und hatte einen Urlaub auf dem Land verbracht. Es war eine
herrliche, unbeschwerte Zeit gewesen, und Großvater hatte sein Gut noch selbst
bewirtschaftet, zusammen mit einem einzigen Angestellten, der ihm zur Hand
ging.
Ein schmerzliches Lächeln stahl
sich auf ihre Lippen, als sie an jenen heißen, erlebnisreichen Sommer dachte.
Auch die Worte, die sie dem alten
Mann zum Abschied aus dem Zug zugerufen hatte, kamen ihr wieder in den Sinn.
›Es war wunderschön, Großvater! Im
nächsten Jahr komme ich wieder … ich möchte jetzt jedes Jahr solche Ferien
verleben …‹
Chantale hatte es sich so
gewünscht. Aber das Leben ließ nicht vorausbestimmen. Es hatte seine eigenen
Gesetze. Es gab kein ›nächstes Jahr‹ auf dem Bauernhof für sie.
Noch im späten Winter des gleichen
Jahres zogen ihre Eltern, beide künstlerisch tätig, von Paris weg. Und
Chantale, die am liebsten geblieben wäre, mußte trotz aller Widerstände mit.
Ihre Eltern hatten sich
entschlossen, nach New York umzusiedeln. Ihr Vater hatte ein Angebot als
Dirigent an die Metropolitan Opera, ihre Mutter sah eine Chance, beim
amerikanischen Fernsehen unterzukommen. Die Produktionsabteilung suchte zu
jenem Zeitpunkt einen mädchenhaften, grazilen Typ, burschikos und doch
mütterlich und romantisch. Alle diese Eigenschaften brachte Françoise de Loire
mit. Sie wurde auf der Stelle für eine Fernsehserie verpflichtet, die zunächst
für sechsundzwanzig Folgen geplant war. Inzwischen waren aber mehr als
sechshundert abgedreht. Das turbulente Leben einer französischen
Aussiedlerfamilie in der Zeit der wilden Jahre, als Indianerüberfälle noch an
der Tagesordnung waren, wo sich – wie im wirklichen Leben – Freud und Leid
abspielten, hatte die Amerikaner begeistert.
Die harte Filmarbeit ließ der
Mutter kaum noch freie Zeit. Die Situation in der Ehe verschlechterte sich, der
Vater – Jean de Loire – vernachlässigte seinen Beruf, weil die Eifersucht ihn
halb wahnsinnig machte. Nicht zu Unrecht, wie Chantale nach einigen Jahren
zugeben mußte. Das hektische Leben hatte Françoise de Loire verändert. Sie kam
nachts nicht mehr nach Hause, feierte mit ihren neuen Kollegen wilde Parties
und ließ das gemeinsame Familienleben, das in Paris so gut funktioniert hatte,
immer mehr zu kurz kommen.
Chantale, die ebenfalls viele neue
Bekannte und Freunde gefunden hatte, geriet aus der Bahn. Mit sechzehn hatte
sie die ersten Rauschgifterfahrungen. Doch es gelang ihr, sich dem
Teufelskreis, der in die Selbstzerstörung führte, zu entziehen. Sie fing sich
wieder, stieg nicht auf härtere Drogen um und kam aus eigener Kraft los vom
Rauschgift. Sie schwor ihrem Freundes- und Bekanntenkreis ab, suchte neue
Bekanntschaften, die nicht in dieser Szene zu Hause waren, und begann ein
anderes Leben.
Die Arbeit im College machte ihr
mit einem Mal wieder Freude. Sie beendete ihr Studium und stieg dann in das
Geschäft des Journalismus’ um, der sie schon immer interessiert hatte.
Schließlich wurde sie Fernseh-Journalistin und griff heiße Eisen an – die Drogen-Szene
in New York, das ungelöste Rassenproblem, die Einsamkeit alter Menschen in der
Riesenstadt …
Das machte sie sieben Jahre lang.
Drei Jahre war es her, seitdem sie New York verlassen hatte und für eine
französische Fernsehstation tätig war. Sie reiste viel durchs Land, ihre
Spezialität waren Szenen mitten aus dem Leben gegriffen.
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