Wenn ich dich gefunden habe
eine einleuchtende Erklärung geben musste. Ihrer Glückshaubentochter konnte doch gar nichts Schlimmes zustoßen.
Bei all den Untersuchungen war es nur eine Frage der Zeit, bis ans Licht kam, dass Angel nur eine Niere hatte.
»Nun«, sagte Mrs. Flood, sobald sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. »Man braucht doch eigentlich nur eine Niere zum Leben, nicht wahr?«, sagte sie und wartete darauf, dass der Arzt lächelte und nickte. Er tat es nicht.
»Man braucht tatsächlich nur eine Niere«, bestätigte er. Aber die Streptokokken hatten es irgendwie geschafft, sich in der einen Niere, die Angel brauchte, breitzumachen.
»Tja, dann müssen Sie ihr eben noch mehr Antibiotika
verabreichen – stärkere, gegen die Infektion.« Mrs. Floods Stimme wurde immer schriller, bis Dara das Gefühl hatte, dass sie schrie.
Das Krankenhauspersonal hatte alles in seiner Macht Stehende getan. Es hatte nichts genützt.
Niereninsuffizienz. So lautete die Diagnose, Angels Glückshaube und all ihrem positiven Denken und ihrer Hoffnung und Zuversicht zum Trotz. Obwohl ihre Mutter unzählige Novenen herunterbetete und Dara begann, mit einem Gott zu verhandeln, an den sie nicht glaubte. Man bereitete Angel auf die Dialyse vor. Fünf Jahre war das jetzt her.
Seither hatte sich viel geändert.
Vor fünf Jahren war Dara noch bei jedem Piepsen oder Stottern des Dialysegeräts aufgesprungen, um eine Krankenschwester zu holen. Vor fünf Jahren war sie noch Nichtraucherin gewesen. Eine richtige Nichtraucherin, die noch nie geraucht hatte und die auch nicht vorhatte, je damit anzufangen.
Vor fünf Jahren hatte Mrs. Flood ungläubige Blicke geerntet, wenn sie von ihren erwachsenen Töchtern erzählt hatte. Sie hatte schlank und rank und jugendlich gewirkt. Diese fünf Jahre hatten Spuren hinterlassen – Falten im Gesicht, Schwimmreifen um die Taille, hängende Schultern, ein Rücken, der sich unter der Last der Sorge krümmte.
Angel hatte diese fünf Jahre als eine lange Reise in ein fremdes Land betrachtet. Sie hatte die Sprache gelernt, das Essen verkostet und die unzuverlässigen öffentlichen Verkehrsmittel getestet. Sie hatte nicht geplant, dieses Land zu bereisen, aber wenn sie schon einmal da war, wollte sie das Beste daraus machen. So war Angel gewesen. Bis jetzt.
5
Es war nicht so, als wäre Stanley Flinters Leben eine totale Katastrophe. Aber er hatte gewisse Vorstellungen gehabt; früher, vor langer Zeit. Er hatte sich schon in jungen Jahren alles haarklein ausgemalt. Genau das stand ihm nun im Weg. Seine Vorstellungen.
Stanley hatte angenommen, dass er ein Mitglied der Garda Síochána sein würde, wie alle Männer in seiner Familie seit mehreren Generationen. Dass er Cora heiraten und mit ihr zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, haben würde. Dass sie jeden Sonntag bei seinen Eltern zu Mittag essen und er mit seinen Brüdern Geschichten über illegale Autorennen, zwielichtige Drogenbarone und die IRA austauschen – und aufbauschen – würde.
Doch es war alles anders gekommen.
Stanley Flinter führte das falsche Leben. Es war sein ältester Bruder Cormac, der Stanleys Leben führte, was Stanley allerdings nie laut aussprach, weil es etwas melodramatisch klang. Auf jeden Fall führte Cormac das Leben, das sich Stanley ausgemalt hatte. Cormac war mit einundzwanzig der Garda Síochána beigetreten und hatte nicht nur bei der medizinischen Untersuchung, sondern auch bei der schriftlichen Prüfung und im Bewerbungsgespräch glänzend abgeschnitten. Und er lebte mit Cora in einem Reihenhäuschen am Rande Dublins, gemeinsam mit Klein Cora, ihrer wunderhübschen gemeinsamen Tochter.
Stanley dagegen hatte von der Garda Síochána einen förmlichen Brief erhalten, an dessen bedauerndem Tonfall er erkannte, was Sache war, ehe er ihn zu Ende gelesen hatte. Wahrscheinlich hatte er es insgeheim immer geahnt, aber da er damals noch ein Optimist gewesen war, hatte er sich trotzdem Hoffnungen gemacht. Doch dann war die Absage gekommen. Schwarz auf weiß hatte es dort gestanden: Er war für den Dienst bei der Polizei nicht geeignet, weil er aus unerfindlichen Gründen von Geburt an auf einem Ohr schlecht hörte. Dass er bloß eins fünfundsechzig groß war, hatte keine wie auch immer geartete Rolle gespielt.
Stanley war auf dem Weg zu seinen Eltern, um Cormacs Beförderung zum Detective zu feiern. Er saß in seinem uralten Ford Transit, einem ehemaligen Polizeifahrzeug, das ihm Cormac günstig verschafft hatte.
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