Wenn ich dich gefunden habe
etwas?« Das war Neal, der unbedingt noch vor der Sperrstunde in sein Stammpub The Flying Fish wollte (eröffnet zu einer Zeit, als es in der Liffey noch Fische gab), denn Freda, die Bardame, hatte ihm, nachdem er sie wochenlang umworben und umschmeichelt hatte, am Vorabend endlich einen Grund zu berechtigter Hoffnung gegeben. »Morgen Abend könnte es so weit sein«, hatte sie gesagt. Das sagte sie zwar fast jeden Abend, aber diesmal hatte sie sich dabei die Lippen geleckt, was Neal als gutes Omen interpretierte.
Cormac ignorierte ihn. »Cora und ich werden heiraten«, verkündete er.
In der nun folgenden kurzen, im Grunde kaum wahrnehmbaren Pause hatte Stanley das Gefühl, als hätte man ihm einen Schlag in den Solarplexus verpasst, und einen Augenblick lang fürchtete er schon, er könnte von der Bank kippen oder sich übergeben oder sogar in Ohnmacht fallen. Und während er nach etwas tastete, an dem er sich festhalten konnte, brachen die Erinnerungen über ihn herein.
Der Augenblick, als er Cora im Biologieunterricht in der sechsten Klasse das erste Mal gesehen hatte. Ihre bloße Anwesenheit tauchte das graue Klassenzimmer in leuchtende, lebendige Farben, eine Mischung aus Orange und Violett.
Sie war Amerikanerin, blond und braungebrannt, und sie war damals gerade mit ihrer Familie von Boston nach Irland gezogen. Alle Jungs waren scharf auf sie. Cora hatte
glatte Haut, grüne Augen, einen wunderschönen Mund und dieselben endlos langen Beine wie Maurice O’Halloran, die Schulsprecherin. Und sie besaß die größte Schuhsammlung, die man sich vorstellen konnte. Stanley hatte sie nie zweimal im gleichen Paar Schuhe gesehen.
Wie er sich nach ihr verzehrt hatte! Die Sehnsucht nach ihr hatte ihm körperliche Schmerzen verursacht, und das Wissen, dass sie für ihn unerreichbar war, machte alles nur noch schlimmer. Ein Gefühl wie kurz vor dem Blinddarmdurchbruch.
Und dann hatte sie ihn auserwählt. »Wie kommt es, dass du nicht mit mir ausgehen willst, so wie die anderen Jungs?« Stanley zuckte grinsend die Achseln, vergrub die Hände in den Hosentaschen seiner steifen grauen Schuluniform und behielt den wahren Grund für sich. Cora hatte angenommen, er würde sich bewusst mysteriös geben, dabei war er bloß schüchtern gewesen. Sie hatte ihn mit einer Entschlossenheit umworben, die ihm den Atem nahm.
Ihr erster Kuss. Sie hatte sich ein wenig hinuntergebeugt, und dann hatte sie ihn geküsst. »Ich wusste, dass du gut küssen kannst«, hatte sie danach gesagt.
Drei Jahre später hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen, sobald sie von ihrer obligatorischen Weltreise nach dem Abitur zurückgekehrt war. Stanley hatte gerade sein Sozialwissenschaftsstudium an der UCD abgeschlossen. (Sein Vater hatte fest damit gerechnet, dass seine Söhne Polizisten wurden, fand aber, sie sollten sich zuerst »ein bisschen Allgemeinbildung aneignen«.)
Zwei Monate nachdem der Brief von der Garda Síochána gekommen war, hatte Cora ihn in seiner winzigen, düsteren Wohnung besucht, deren muffiger Geruch alles einhüllte wie Küstennebel.
In diesem Augenblick war der Brief vergessen. Er war ihm egal. Alles war ihm egal. Stanley interessierte sich nur noch für dieses wunderschöne Geschöpf, das auf seinem Bett ausgestreckt dalag, ein Farbklecks in seiner sonst so trostlosen Welt, in der es schon reichte, wenn man auf einem Ohr schlecht hörte, um sämtliche Träume zu zerstören. Stanley schloss die Augen und drückte Cora an sich, inhalierte sie, als wäre sie Luft, und betrachtete sie, während sie schlief. Er wollte sie nicht wecken, wollte sich alles genau einprägen. Als hätte er schon damals geahnt, dass es nicht von Dauer sein würde. Es gibt Dinge, die weiß man einfach. Und Stanley sollte recht behalten.
Denn dann kam Cormac.
Cormac, der Frauen vernaschte wie andere Männer eine Packung Maltesers: leichtfertig, unbekümmert, mit Genuss, aber immer gleich nach der nächsten süßen Versuchung greifend. Und dann lief ihm Cora über den Weg. Sie wurde schwanger, während sie noch mit Stanley ausging, wie sie es nannte.
»Schlag mich«, hatte Cormac zu Stanley gesagt und auf sein Gesicht gedeutet. »Meinetwegen auch zweimal. Ich werde mich nicht verteidigen.« Das war seine Art, sich zu entschuldigen. Und Stanley hatte ihm verzeihen müssen. Die ganze Familie war auf seiner Seite, aber es galt auch an das Baby zu denken. Das erste Enkelkind. Stanleys erste Nichte. Also hatte er sich zurückgezogen. Was hätte er
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