Wenn ich dich gefunden habe
Sachen?«, wiederholte Dara.
»Ja, seine … Ich dachte … Ich hatte angenommen, dass … Sie hier sind, weil …« Doreen hüstelte. »Er ist ja schon ein paar Wochen im Hospiz. Ich wollte ihn natürlich besuchen, aber ich hatte mit dem Haus und den anderen Mietern alle Hände voll zu tun. Sind ganz schön fordernd, diese Leutchen. Ständig wollen sie irgendetwas gratis.«
»Das Hospiz?« Dara hatte genau gehört, was Doreen gesagt hatte, und sie wusste, was ein Hospiz war, aber sie musste trotzdem nachhaken. Um ganz sicherzugehen.
Doreen presste sich die Hand auf den Mund. »Ach herrje, das tut mir aber leid, Schätzchen. Ich dachte, Sie wissen Bescheid. Ich dachte, deswegen sind Sie hier. Er hat immer behauptet, er hätte keine Familie, aber irgendjemanden hat doch jeder, nicht?«
Dara nickte stumm. »Dann ist er also …?«
»Ja, meine Liebe. Es tut mir so leid. Er hat … Es ging ihm nicht gut. Schon eine ganze Weile.«
Doreen stellte ihre Tasche auf der untersten Stufe ab und drückte Dara kräftig an sich. Dara ließ es über sich ergehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Doreen hatte Tränen in den Augen, als sie sie schließlich losließ. Sie tastete die Taschen ihres Hausmantels ab. Dara zog ein Taschentuch
aus ihrem Rucksack. »Hier.« Doreen nahm es entgegen, tupfte sich die Augenwinkel und putzte sich geräuschvoll die Nase.
»Sie finden mich bestimmt albern«, nuschelte sie durch das feuchte Taschentuch hindurch. »Aber ich war so überrascht … Sie sehen wirklich genauso aus wie Gene. Jedenfalls so, wie er ausgesehen hat, als er hier ankam.«
»Wissen Sie zufällig, wie das Hospiz heißt?«, fragte Dara. Sie hoffte beinahe, dass Doreen Nein sagen würde. So hatte die Geschichte nicht enden sollen.
Doreen nahm ihre Tasche zur Hand und klemmte sie sich wieder unter die Achsel. »St.Jude’s, glaube ich.« St.Jude’s. Der Heilige Judas Thaddäus. Wie grausam, ein Hospiz nach dem Patron der hoffnungslosen Fälle zu benennen, dachte Dara. »Von dort hat er mehrfach Post erhalten. Hauptsächlich Rechnungen, Gott steh ihm bei.« Sie bekreuzigte sich. »Ich habe den Schlüssel dabei. Kommen Sie, wir gehen mal rein.«
Doreen hatte recht, die Erdgeschosswohnung war feucht, eng und düster, selbst bei eingeschaltetem Licht. In der Ecke ein kleiner Heizstrahler. Über der Spüle ein an die Wand genageltes Regal, auf dem eine Tasse, ein Teller und ein deckel- und henkelloser Topf standen. Auf dem Küchentisch ein Stapel Papierkram. Doreen ging darauf zu. Dara öffnete inzwischen eine Tür und fand sich in einem Schlafzimmer wieder. Ein Einzelbett und eine Kommode mit drei Beinen, anstelle des vierten ein Stapel Gartenzeitschriften. Erst als sie sich zum Gehen wandte, sah sie sie. Sie standen auf dem Boden, in einem Viereck, das die durch ein kleines Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen bildeten. Fünf perfekt geformte, ausgewachsene Bonsaibäumchen
mit dicker Borke und frischen grünen Blättern, winzig klein und zart.
Dara bückte sich, um einen zu berühren, und musste den Umständen zum Trotz lächeln über das warme, holzige Gefühl des Stämmchens. Dann drückte sie einen Finger in die Erde. Sie war hart und trocken. Neben den Bäumchen stand ein Messkrug mit abgestandenem Wasser. Dara füllte ihn an einem rostfleckigen Waschbecken im Bad mit frischem Wasser und goss etwas davon in jedes Schälchen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte.
69
»Hier ist es«, sagte der Taxifahrer, der Stanley in mürrischmonotonem Tonfall vollgelabert hatte, seit er am Flughafen von Manchester eingestiegen war. In diesen zwanzig Minuten hatte er ihm seine Ansichten zu einer ganzen Reihe von Themen dargelegt, von Einwanderung (nichts gegen Ausländer an sich, aber …) über alleinerziehende Mütter (bestimmt liegen die nicht alle dem Wohlfahrtsstaat auf der Tasche) bis hin zum melancholisch grauen Wetter, das er als einen persönlichen Affront aufzufassen schien. Stanley hatte nicht einmal so getan, als würde er zuhören. Er hatte an Dara gedacht. An ihr bedächtiges, zurückhaltendes Lächeln. An ihr überraschend tiefes, kehliges Lachen, mit geschlossenem Mund, als würde sie versuchen, es zu unterdrücken.
Vor dem Haus Nummer 124 stand eine Frau und winkte einem Taxi nach, das soeben davonbrauste und um die Kurve verschwand.
Stanley stieg aus dem Wagen und nickte ihr zu, ehe er das Gatter öffnete und zur Haustür ging. Zwischen den Platten des Fußwegs sprossen Moos und Unkraut. Er
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