Wenn ich dich gefunden habe
konnte man schon je ganz sicher sein?
67
Im Flugzeug betrachtete Stanley das Foto, das ihm Mrs. Flood mitgegeben hatte.
Es zeigte einen Mann mit seidigem schwarzem Haar, einem kleinen, blassen Gesicht und dunkelblauen Augen, die eher lang als groß waren. Er stand hinter einer Frau, die breit und unbeschwert in die Kamera lächelte, als wäre sie überzeugt, dass ihr niemals etwas Schlimmes zustoßen würde. Sie hatte eine Hand auf ihren riesigen Bauch gelegt, eine Geste, die etwas unheimlich Intimes, Sanftes hatte. Mit ihren hellblauen Augen und der blassen Haut sah sie aus wie Angel, die in ihrer Armbeuge lag und schlief.
»Das hab ich neulich gefunden, als ich … mal ein bisschen ausgemistet habe«, hatte Mrs. Flood zu Stanley gesagt.
»Sie sind wunderschön.« Es war Stanley einfach herausgerutscht. Er hatte zu Mrs. Flood geschielt, doch sie hatte in Erinnerungen versunken das Foto angestarrt.
»Das war ich damals«, hatte sie gesagt. »Ich war mit Dara schwanger, als dieses Bild gemacht wurde. Ungefähr zwei Monate danach kam sie zur Welt.« Stanley schob das Foto in seine Brieftasche.
»Ich gebe es Dara«, hatte er gesagt. »Das hätte sie bestimmt gern.«
Das Flugzeug setzte zur Landung in Manchester an. Stanley spähte aus dem Fenster auf ein nasses, graues Gitternetz
hinunter und dachte an Dara, die irgendwo dort unten in den fremden Straßen dieser fremden Stadt auf der Suche nach Mr. Flood war. Und sie würde ihn finden, da war er ganz sicher. Was ihm Kopfzerbrechen bereitete, war das, was danach kam. Wenn sie ihn gefunden hatte.
Er schloss die Augen und dachte an Dara, an ihre glatten, weichen Schultern, an die sanfte Rundung ihrer Hüften. An das Muttermal in ihrer Kniekehle, das an die Form des italienischen Stiefels erinnerte.
»Ich war noch nie in Italien«, hatte sie gesagt, als er es entdeckt hatte, an jenem Morgen, an dem er neben ihr erwacht war.
»Wir sollten hinfahren«, hatte er erwidert und seine Worte sogleich bereut. Kaum hatte er es ausgesprochen, hatte er im Geiste auch schon gehört, wie Sissy Clarke, bewaffnet mit zwei Kissen, die Treppe hinuntergepoltert kam. Er hätte es nicht sagen sollen. Es war zu früh gewesen. Doch Dara hatte gelächelt und gesagt: »Das wäre schön«, als wäre es nicht zu früh.
Stanley schnallte sich an und klappte das Tischchen hoch. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn er sie gefunden hatte. Aber eines stand fest: Er würde sie finden.
68
Als Dara mit ihrem Kaffee und ihren Croissants wieder vor dem Haus stand, beschloss sie, aktiv zu werden. Sie drückte nacheinander auf sämtliche Klingeln. Zwei Leute antworteten. Zunächst ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. »Mummy sagt, ich darf niemanden reinlassen, wenn sie in der Arbeit ist«, erklärte die Kleine mit ernster, bekümmerter Stimme.
»Da hat sie recht, das solltest du nicht tun«, sagte Dara, entsetzt von der Vorstellung, dass jemand sein Kind in diesem verfallenen Bau allein ließ. »Du solltest nicht mal hingehen, wenn es klingelt.«
»Warum hast du dann geklingelt?«
»Was?«
»Wenn ich nicht hingehen soll, wenn es klingelt, warum hast du dann geklingelt?« Die Frage war berechtigt, fand Dara.
»Ähm, weil … weil ich nicht wusste, dass du zu Hause bist«, stotterte sie. Eine lahme Antwort.
Die Kleine überlegte. »Willst du raufkommen und mit mir Maumau spielen?«, fragte sie. »Das ist ein Kartenspiel. Ich bin echt gut im Kartenspielen.«
»Äh, nein danke«, sagte Dara. »Und du solltest wirklich niemanden …«
»Okay, ich muss jetzt aufhören, gleich kommt Hannah Montana«, sagte das Mädchen und legte auf.
Dara zögerte, ehe sie auf den nächsten Knopf drückte. Aus einer Wohnung ganz oben meldete sich eine schwerhörige ältere Dame. »Was?«, brüllte sie in die Sprechanlage, als sich Dara nach Gene Waters erkundigte. Dara wiederholte ihre Frage. »Ich kaufe nichts, was auch immer es ist!«
»Nein, ich … Ich verkaufe nichts. Ich suche einen Mann namens Gene Waters.«
»Und warum klingeln Sie dann bei mir?«
»Ich … ich dachte, Sie kennen ihn vielleicht.«
»Nein.«
»Es ist nur … Soweit ich weiß, wohnt er in diesem Haus.«
»Warum klingeln Sie dann nicht bei ihm?«, fragte die Frau.
»Weil ich nicht sicher bin, wo genau …« Aufgelegt.
Niemand ging hinein oder kam heraus, vielleicht, weil Sonntag war. Das heruntergekommene Haus erweckte bei Dara ohnehin den Eindruck, als wäre es längst von seinen
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