Das Licht des Orakels
Frühling
1
Bryn war klar, dass andere es für kindisch halten würden, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen einer Wolke von Distelwolle über die Felder hinterherjagte. Wenn ihre Mutter das gesehen hätte, würde sie die Hände gehoben und die Götter beschimpft haben, dass sie ihr eine so nichtsnutzige Tochter geschenkt hatten. Ihre Brüder hätten sich bestimmt darüber lustig gemacht, und sogar ihr Vater hätte missbilligend geguckt. Aber das war egal, sie alle waren nicht da.
Die Wolke aus Distelwolle strich über Bryns Stirn, bevor sie wieder mit dem Wind davonwirbelte. Bryn versuchte, sie zu fangen, doch sie blieb außer Reichweite, tanzte durch die Luft und lockte sie weiter. Wo kam sie überhaupt her, wie konnte sie jetzt im Frühlingswind herumwirbeln? Eigentlich gaben Disteln ihren Samen erst im Hochsommer ab.
Ein lautes Wiehern schreckte Bryn auf. Ein Schauer von Kieseln prasselte gegen ihre nackten Beine und Schreie gellten ihr in den Ohren. Sie warf sich zurück und landete im Staub der Landstraße. Die Distelwolle hatte sie direkt ein paar Pferden in den Weg geführt. Sie rappelte sich auf und wich vor den großen Hufen zurück, die ihr fast den Schädel zertrümmert hätten. Über dem Feld auf der anderen Seite der Straße wirbelte die Distelwolle mit dem Wind davon.
»Wer bist du?«, fragte der Mann auf dem Pferd, das sie fast niedergetrampelt hätte. Sein rotes, mit Gold besticktes Gewand bewegte sich steif in der Brise. Hinter ihm ritten Soldaten. Goldene und rote Zeichen glänzten auf den Brustplatten ihrer Wämser. Hinter den Soldaten nahm Bryn flüchtig noch weitere Reisende wahr.
Sprachlos blickte sie die Reiter an. Diese Vision war viel realistischer als alle anderen, die im Lauf der Jahre vor ihren Augen aufgeflackert waren. Sie blinzelte und wartete darauf, dass sie wieder verschwinden würde.
»Also, wer bist du?« Ein großer Ring blitzte an der Hand des Reiters auf.
Bryn war es gewohnt, immer die Komische zu sein, das seltsame Mädchen, die verrückte Träumerin. Nur Dai, der Priester des Dorfes, schien eine hohe Meinung von ihr zu haben. Die meisten anderen machten sich über sie lustig, wenn sie von ihren Visionen sprach, aber dieser Mann hier schien eine Antwort zu erwarten. »Bryn, Herr.«
»Bryn, aha.« Sein scharf geschnittenes Gesicht blieb völlig ausdruckslos. »Warum bist du meinem Pferd vor die Hufe gerannt?«
Bryn blickte wieder auf die Stickereien auf seinem Gewand. Er verschwand nicht. Seine Gestalt war ebenso tastbar wie die Steine, die sich in ihre Fußsohlen bohrten.
Sie verbeugte sich tief, wie Dai es ihr zur Begrüßung eines bedeutenden Priesters beigebracht hatte.
Als sie sich wieder aufrichtete, musterte er sie immer noch. »Ich hab dich gefragt, warum du meinem Pferd in den Weg gerannt bist.«
»Ich weiß nicht, Herr.« Wie hätte sie ihm auch sagen können, dass die Distelwolle sie geführt hatte?
»Sag es mir. Dir wird nichts geschehen.«
Bryn zeigte auf das Feld, doch der Wind hatte sich gelegt. »Die Distelwolle«, sagte sie. »Sie hat gewollt, dass ich ihr nachlaufe.«
Er lachte sie nicht aus. »Wo wohnst du, Bryn?«
»Beim Steinbruch.«
»Ist dein Vater Steinhauer?«
»Ja, Herr. Meine Brüder auch.«
»Kannst du reiten?«
Bryn nickte ein bisschen schuldbewusst. Sie und Aaron, der Sohn des Schmieds, waren heimlich auf jedem Pferd im Dorf geritten, nachts, wenn die Ställe unbewacht waren. Aaron hatte sie sogar herausgefordert, einen feurigen Hengst zu reiten, der einmal im Stall seines Vaters stand. Bryn hatte die Herausforderung angenommen, und nie würde sie das Gefühl vergessen, wie sie über die vom Mondlicht beschienenen Felder geflogen war.
»Bolivar«, sagte der Priester zu einem Soldaten direkt hinter sich, »hol die weiße Stute.«
Bolivar, ein großer Mann mit einem schmalen
Schnurrbart, führte ein schneeweißes Pferd mit blauem Geschirr herbei. Die Rüstung des Soldaten knarrte, als er Bryn in den Sattel hob. Seine Armmuskeln waren mächtiger als die des Schmieds.
Bryn war es nicht gewohnt, seitlich im Damensitz zu reiten. Sie fühlte sich unbehaglich. Wenn sie zusammen mit Aaron geritten war, waren sie beide einfach auf den bloßen Rücken der Pferde gesprungen, die sie gerade finden konnten.
»Wo geht es zu eurem Haus?«, fragte der Priester.
»In diese Richtung, Herr.« Um auf der Straße zum Steinbruch zu gelangen, mussten sie das Dorf durchqueren, das nach dem ersten Steinhauer, der sich dort
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