Wenn Wir Tiere Waeren
Weg. Erlenbach sagte sofort, worum es ging. Er fragte, ob ich die Stelle von Autz übernehmen wolle. Ich tat erst so, als hätte ich nicht richtig verstanden. Sie meinen, ob ich bei Ihnen anfangen will? Ja, das will ich, sagte Erlenbach. Als ich eine Weile nichts sagte, fuhr er fort: Ich weiß, das ist für Sie eine nicht ganz leichte Sache, aber ich will mir später nicht vorwerfen, Sie nie gefragt zu haben.
Vielen Dank für die Einfühlung, sagte ich.
Es gibt auch Sachzwänge, sagte Erlenbach; unser Büro floriert, wir brauchen dringend Verstärkung.
Darf ich mir das bis morgen überlegen?
Ja, gewiss, bis zwölf Uhr, wenn ich bitten darf, antwortete Erlenbach.
Der zweite Halbsatz war der Satz eines Mannes, der plötzlich mein Chef geworden war. Ich verabschiedete mich. Im Fahrstuhl kriegte ich eine enge Kehle. Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. Ich fuhr noch einmal hoch ins Büro und lieh mir von der Sekretärin einen Schirm. Es war, als sei auch sie schon lange informiert. Natürlich, sagte sie, einem neuen Kollegen leihen wir gerne einen Schirm. Die Anstellung war (wäre) ein Anschlag auf meine Unabhängigkeit. Aber sie war auch eine Attacke auf mein inneres Freiheitsgefühl, das war viel schlimmer. Ich machte mir viel zu heftige Gedanken. Da war schon wieder einer: Sie erpressen dich mit deiner Lebensangst. Allen Eingeweihten ist bekannt, dass seit Jahren viel zuviel Architekten ausgebildet werden, die sich dann auf dem freien Markt um jeden Tankstellenneubau balgen müssen. Obwohl ich mir nicht bedroht vorkam, würde mich die Anstellungwomöglich retten. Deswegen kam mir der Job, falls ich ihn annehmen würde, wie eine Niederlage vor. Meine innere Übertriebenheit ähnelte dem Regen. Ich überlegte, ob ich in einem Lokal Unterschlupf suchen sollte. Eine Frau zog sich eine Plastiktüte über den Kopf und rannte über eine fast leere Straße. Die Regentropfen waren jetzt so groß, dass sie beim Aufplatschen auf der Straße seitlich hochspritzten. Nur weil ich das Schaufenster eines Fischgeschäftes sah, kaufte ich mir einen Rollmops. Das Wort Rollmops hatte mich in meiner Kindheit eine Weile vergnügt. Drei Minuten später erfuhr ich, dass das Fischgeschäft keine Rollmöpse mehr führte.
Haben Sie überhaupt nie Rollmöpse oder sind sie gerade ausverkauft? fragte ich.
Die Verkäuferin war ratlos, vielleicht hatte sie das Wort Rollmops noch nie gehört. War es möglich, dass Rollmöpse für unsere eleganten Städte zu ordinär geworden waren und deshalb abgeschafft werden mussten? Mit oder ohne Rollmops war ich plötzlich in die Welt meiner Kindheit gerutscht, in der es Rollmöpse in Hülle und Fülle gab. Ich war etwa acht Jahre alt, als meine Mutter zu einer Nachbarin sagte, dass ihr Sohn, das heißt ich, ein hochbegabtes Kind sei. Meine Mutter war einfältig beziehungsweise halb verrückt beziehungsweise selber träumerisch hochbegabt, was bei ihr ein und dasselbe war. Anstelle des Wortes hochbegabt verstand ich das Wort hochbetagt, was ich damals ebensowenig verstand wie hochbegabt. Einen Tag später fragte ich meinen Lehrer nach dem Wort. Der Lehrer sagte nur ein Wort und lächelte dazu: alt. Erst jetzt verstand ich, wie weitblickend der Satz meiner Mutter war und wie wohltuend präzise sie ihren Sohn einschätzte. Tatsächlich fühlte ich mich als Achtjähriger alt, erschöpft undvon der Welt angewidert. Ich lief (damals wie heute) eng an den Hauswänden entlang, heute mit geliehenem Schirm, sonst war alles wie früher. Ohne zu wissen, wohin ich wollte, ging ich in Richtung Hauptbahnhof. Ein Mann trat mit voller Kraft gegen einen prall gefüllten Müllsack. Der Sack platzte, ein Teil des Mülls fiel auf die Straße. Ich blieb eine Weile stehen und betrachtete das Bild. Nasser Müll sieht erheblich müllartiger aus als trockener Müll. Je länger ich unterwegs war, desto unangenehmer wurde mir die Vorstellung, demnächst bei Erlenbach & Wächter antreten zu müssen. Denn ich führte im großen und ganzen ein Leben, das ich mir so, wie es war, gewünscht hatte, und ich war nicht bereit, nur zur Beschwichtigung meiner Lebensangst ein Angestellter zu werden.
Mit dieser vor mich hingeflüsterten Losung kam ich mir vorerst beschützt vor. In der Nähe des Hauptbahnhofs war eine Demonstration im Gange. Berittene Polizei drückte Abertausende von Jugendlichen in die Nebenstraßen zurück. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, Teil einer Demonstration zu sein und von Polizeipferden bedrängt zu
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