Wenn Wir Tiere Waeren
noch einmal und sogar stärker. Aus dem nahen Theater trat meine leider von mir geschiedene Ehefrau Thea in Begleitung ihrer Freundin Susanne hervor. Thea kam auf mich zu und fragte mich in der mir vertrauten Weise: Hallo! Was machst du? Wie stehts mit deiner Gesundheit? Warum treibst du dich nachts hier in der Gegend herum? Wie stehts mit der Liebe? Hast du genügend Aufträge? Oder bist du inzwischen pleite?
Aber nicht diese Fragen waren es, was mich schwächte. Sondern der Anblick ihres mich verstörenden Gesichts. Thea hatte sich inzwischen neue Zähne einsetzen lassen und dadurch der unteren Hälfte ihres Gesichts eine neue, andere Form gegeben. Ich starrte wortlos auf ihren jetzt pferdeartig vorgewölbten Mund. Als ich noch mit Thea zusammengelebt hatte, waren ihre schief zueinander stehenden und teilweise nicht voll ausgewachsenen Zähne so etwas wie ein zärtlicher Mangel gewesen. Wann immer sie lachte, hob sie ihre kleine rechte Hand vor den Mund, damit niemand ihre Defekte sah. Jetzt sprach und lachte sie und wusste offenbar nicht, dass jeder, der sie mit ihren Naturzähnen kannte, erschrocken sein musste über diese Veränderung. Wie in alten Zeiten wollte ich sofort Streit mit ihr anfangen: Wie konntest du so etwas tun? Weißt du nicht, dass die Künstlichkeit deines Kiefers jeden fassungslos machen muss? Hast du kein Stilgefühl dafür, dass dein schmales Gesicht eine so wuchtige Mundpartie nicht verträgt?
Ich stellte mir vor, dass ich sie jetzt nie mehr würde küssen können. Thea und Susanne redeten jetzt über dasTheaterstück, das sie gerade gesehen hatten, ich blieb stumm. Die beiden Frauen fragten nicht, wo ich war und wo ich hinwollte. Nach einigen Minuten begann ich, meinen Körper langsam wie zum Weitergehen wegzuschieben. Thea verstand das Signal und verkürzte seinen Ablauf, indem sie ausrief: Tschüss dann! Lass dich nicht mit dirty women ein!
Thea und Susanne verschwanden kichernd. Auch die anderen Leute, die aus dem Theater gekommen waren, sah ich nicht mehr. Hinter mir befand sich das Schaufenster eines Lampengeschäfts. Ich schaute ein paar Lampen an, obwohl ich keine Lampen brauchte und keine kaufen würde. Auf dem jetzt leeren Platz vor dem Theater landete eine große Krähe. Sie hatte von weit oben einen verlorenen Babyschnuller liegen sehen und ihn vermutlich für etwas Essbares gehalten. Jetzt hackte der Vogel auf dem Plastikding herum und schleuderte es durch die Gegend. Es dauerte fast vier Minuten, bis die Krähe akzeptierte, dass der Schnuller nicht essbar war. Eindrucksvoll resigniert entfaltete sie ihre Schwingen, erhob sich und verschwand zwischen den Fassaden. Ich ging an heruntergekommenen Grünanlagen vorbei, deren Ärmlichkeit mich schon lange nicht mehr berührte. Es erstaunte mich, dass ich mit vielen Menschen und Dingen, die ich eigentlich unerträglich fand, im großen und ganzen einvernehmlich zusammenlebte. Im Augenblick wusste ich nicht, ob ich schon ein Individuum war oder erst noch eines werden musste, was ich mir immer noch wünschte.
Vermutlich hing es mit dem Bild des Schnullers zusammen, dass mir jetzt einfiel, wie sehr sich Thea zu Anfang der Ehe ein Kind gewünscht hatte. Nicht, dass ich nicht auch ein Kind hätte haben wollen. Aber ich hatte schonfrüh das Gefühl, dass das Zusammenleben mit Thea nicht von langer Dauer sein konnte. Ich war damals entsetzt darüber, dass jedes dritte oder vierte Kind entweder bei seiner Mutter oder bei seinem Vater lebte, aber nicht bei seinen Eltern. Es hätte mich innerlich ausgehöhlt, jedesmal mit Thea klären zu müssen, ob ich das Kind bei ihr treffen könne. Trotzdem stellte ich mir vor, dass mein Sohn (meine Tochter) jetzt ungefähr elf Jahre alt wäre und dass ich vermutlich dankbar wäre, ein Kind zu haben. Ich verstand nicht mehr, warum es mir damals so wichtig war, auf jeden Fall eine lang anhaltende Ehe zu führen. Vermutlich war es für ein Kind nicht wichtig, ob sein Vater in x und seine Mutter in y wohnte. Die zurückkehrende Wucht heute nicht mehr verstehbarer Vorbehalte stieg in mir hoch und machte mir ein schlechtes Lebensgefühl. Am schlimmsten war im Augenblick, dass ich heute kein Kind mehr wollte. Die Familie als Lebensform hatte sich aus meiner Existenz entfernt. Momentweise fühlte ich die gewachsene Unklarheit meines Lebens, die ich kaum eine Minute lang aushalten konnte. Ich betrat eine lärmende Bar, von der ich hoffte, dass sie meine innere Finsternis auf der Stelle löschte. Nach einer
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