Wenn Wir Tiere Waeren
Weile bemerkte ich, dass mir die Theke bekannt vorkam. Ich dachte: Es ist unmöglich, einer Frau ein Kind zu verweigern. Ich bestellte ein Glas Weißwein, trank es leer und bestellte ein zweites. Die Bedienung sah mich an und fragte: Alles in Ordnung bei Ihnen? Ich antwortete nicht.
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AN EINEM MITTWOCHMORGEN fuhr ich Karin in die Klinik. Die Autobahn war ruhig, und Karin erklärte mir, wie ich fahren sollte. Ein Problem war, dass ich den Druck verspürte, Karin unterhalten zu müssen, und dass mir kein Thema zum Plaudern einfiel. Einmal überquerten zwei Schwäne in geringer Höhe die Autobahn. Zwei Schwäne! rief ich dankbar. Wo kommen die denn her? Diese riesigen ungeschickten Tiere! Karin lachte kurz, dann war das Thema erledigt. Ich kam nicht auf den Gedanken, dass Karin wegen der bevorstehenden Untersuchung besorgt und in ein natürliches Schweigen versunken sein könnte. Einmal, in Höhe von Flörsheim, fiel mir eine Krankengeschichte aus meiner Jugendzeit ein, die sich zum Erzählen aber gerade nicht eignete. Es war gar keine Geschichte, sondern nur eine Erinnerung. Mein Vater lag sterbenskrank in einer Klinik, in der er wenige Tage später auch starb. Es kostete mich Mühe, ihn zu besuchen. Um mir den Weg zu erleichtern, kaufte ich mir ein Pfund Trauben, die ich unterwegs aufaß. Mein Vater wurde zu diesem Zeitpunkt schon künstlich ernährt. Es hatte keinen Sinn mehr, ihm Obst, Schokolade oder sonst etwas mitzubringen. Er öffnete gelegentlich die ein wenig verklebten Augen und sagte dann und wann einen halben Satz. Als ich neben seinem Bett saß, erkannte er mich nicht mehr. Einmal sah er einen Henkel Trauben auf dem Nachttisch seinesNebenmannes und sagte eine halbe Minute später: O diese herrlichen Trauben. Daraufhin sagte ich tatsächlich: Ja, da hast du ganz recht, die Trauben waren herrlich! Wegen dieses grauenhaften Satzes fürchtete ich momentweise, ebenfalls bald sterben zu müssen. Ich geriet in eine innere Gespensterei, die erst endete, als ich aufstand und das Krankenhaus verließ.
Karin trug ein elegantes graues Kostüm und eine schwarze Handtasche. Nach etwa einer Dreiviertelstunde, kurz vor Wiesbaden, hieß mich Karin, nach rechts abzuzweigen. Nach kurzer Fahrt erreichten wir einen großen Parkplatz. Karin zeigte mir, ehe sie ging, eine klinikeigene Cafeteria, die ich später auch aufsuchte, allerdings nur kurz, weil sie überhell ausgeleuchtet war, was mich störte. Ich beobachtete kurz ein Kind, das weinte und schrie und um sich schlug und zugleich auch noch sprechen wollte. So ungefähr könnte ich gewesen sein, dachte ich. Mir gefiel der lauernd-vorsichtige Lebensstil der Parkplatztiere. Ein Eichhörnchen hielt nach drei, vier Sprüngen inne und lauschte in die Umgebung. Zwei Elstern setzten sich auf die Spitze einer Bogenlampe und sahen auf den Parkplatz herunter. Vermutlich arbeitslose junge Männer saßen um zehn Uhr morgens mit Kinderwagen auf den Bänken und schwiegen ihr Kind an. Ein größeres Kind sagte Einchhörnchen. Der Vater verbesserte: Es heißt Eichhörnchen. Ja, Einchhörnchen, sagte das Kind. In dem jetzt leeren Springbrunnenbecken vor dem Eingang der Klinik lief eine einzelne Taube umher und suchte zwischen leeren Pappbechern, Prospekten und Zeitungsfetzen nach Nahrung. Sie schleuderte mit dem Schnabel die Pappbecher um sich, wodurch nicht die Pappbecher, sondern das Tier lächerlich wurde. Ein Mann drückte mit der Faust den Inhalt einesAbfallbehälters nieder und ging weiter. Kurz danach änderte der Mann seine Laufrichtung, damit er auch an den anderen Abfallkörben vorbeikam, deren Inhalt er ebenfalls mit der Faust zusammendrückte. Dadurch wurde der Mann der Taube ähnlich. Ich wunderte mich nicht, dass ich alle diese Vorgänge betrachtete. Ich war ein moderner, zuweilen konfuser Mann geworden, der seiner Ich-Suche überdrüssig geworden war (das war meine Vermutung) und seine temporäre Verwirrung mehr und mehr annahm. Amselpaare verfolgten einander und zeterten dabei. Eine ältere Küchenhilfe mit weißer Schürze und Kopfhaube trat aus einem Nebenausgang der Klinik hervor. Sie trug zwei Eimer Küchenabfälle zu den großen Müllcontainern am Rande des Parkplatzes. Einige Augenblicke lang drehte sie den Kopf, und dabei erkannte ich sie. Sie hatte in der Mitte der Oberlippe eine Hasenscharte, die zur Nase hochführte. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren war sie eine blutjunge Küchenhilfe des Kaufhauses Karstadt gewesen, in dem ich als Schüler einen Ferienjob hatte.
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