Wer anders liebt (German Edition)
lag.
»Reinhardt«, bat sie, »tritt das aus.«
Reinhardt machte einige Schritte zur Seite und zerdrückte den Filter mit übertriebener Kraft unter seiner Schuhsohle.
»Du bist so gestresst, Kristine.«
Sie zuckte defensiv mit den Schultern, heftiger zu protestieren wagte sie nicht. Die Sonne, die bald untergehen würde, ließ ihre letzten Strahlen durch die Bäume fluten. Auch Kristine öffnete ihre Jacke und schob sich die langen Haare aus dem Gesicht, ihre Haare waren dicht und braun mit ein paar roten Strähnen dazwischen. Sie war klein und schmal, ihr Gesicht war klein, mit hoher gewölbter Stirn und runden Wangen. Sie hatte winzige Hände und Füße. In liebevollen Augenblicken nannte der Mann sie Püppchen. Auch Reinhardt fuhr sich durch die Haare. Ein kurzer, sandfarbener Schopf ragte über seiner Stirn auf und erinnerte an eine Haifischflosse. Sie waren unterwegs zum See Lindetjern, dorthin gingen sie immer, jeden Sonntagnachmittag. Kristine sah die Routine, die Gewohnheiten, in denen sie gefangen waren, die tiefe Furche, in der sie steckten. Niemals wurde der Rhythmus gebrochen, sie fuhren morgens zusammen von zu Hause los und verabschiedeten sich vor dem Zentralkrankenhaus, wo sie an der Rezeption arbeitete. Reinhardt fuhr weiter zu Hafslunds, wo er Sicherheitssysteme entwickelte. Sie aßen gemeinsam zu Abend und sahen fern, saßen in dem blauen Flimmern, nebeneinander. Danach setzte Reinhardt sich an ein Computerspiel, während Kristine die Hausarbeit erledigte. Dass er sich so intensiv den Computerspielen widmete, machte ihr durchaus zu schaffen, sie fand, ein Mann von sechsunddreißig Jahren solle seine Zeit nicht mit Zauberern und Drachen vergeuden. Er saß nicht nur mit einem wilden, funkelnden Blick da, er brach auch manchmal in kindliches Geschrei aus, das ihr peinlich war. Er fluchte und schimpfte aufs Gröbste, oder er schrie triumphierend, wenn er einen Feind zur Strecke gebracht hatte. Außerdem redete er ununterbrochen, er hatte zu allem eine Meinung und für alles eine Lösung. Sie sprachen nicht über sich selbst und ihre Gefühle. Das meiste war bereits gesagt, und in düsteren Augenblicken fand Kristine, dass sie einander wie Fremde gegenüberstanden. Nachts lag sie lange wach und atmete gegen die Wand, während Reinhardt dröhnend schnarchte. Manchmal fiel er mit einer Intensität über sie her, die ihr fast Angst machte. Das ist mein Leben, dachte sie, mehr als das hier bekomme ich nicht. Ich könnte ihn verlassen, aber wohin sollte ich gehen, was sollte ich sagen? Er ist zuverlässig und treu, er schlägt mich nie, und jeden Monat bezieht er ein Gehalt, das um einiges höher ist als meins. Diese Gedanken belasteten sie, als sie hier durch den Wald gingen. Sind andere glücklich, fragte sie sich, stimmt mit uns etwas nicht, haben wir etwas falsch verstanden?
Reinhardt schritt aus. Sie sah seinen wogenden Schatten aus den Augenwinkeln, immer fühlte sie sich schuldig. Selbst wenn sie ganz tief in sich suchte, fand sie keine guten Gefühle für ihn, sie kam sich vor wie eine Verräterin. Und dieser Verrat zwang sie in die Knie. Sie wagte nicht, ihn zur Rede zu stellen, Zweifel an ihm zu äußern oder Forderungen vorzubringen, denn vielleicht würde er sie durchschauen. Du liebst mich nicht, meinst du, das wüsste ich nicht? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du mich hinters Licht führst? Sie stapfte hinter ihm her den Weg entlang, ihre Gedanken brachten ihre Wangen zum Glühen. Sie wollten zum See und für einige abgemessene Minuten am Ufer stehen, das Wasser tat immer gut. Es würde den Brand in ihren Wangen löschen und sie kühl werden lassen. Die Überreste von Häusern aus längst vergangenen Zeiten am Ufer versetzten sie immer in Erstaunen, bescheidene Steinkreise waren noch sichtbar. Dort hatten Familien mit Kindern, Arbeit und Alltag gewohnt, mit Krankheit und Tod, mit kurzen Momenten von Glück und Wärme. Dass Menschen mit so wenig ausgekommen waren. Sie beide hatten zweihundertfünfzig leere Quadratmeter, sie drängten sich in der Ecke vor dem Fernseher aneinander, und die Zimmer warteten auf Kinder, die niemals kamen, auf Freunde, die niemals bei ihnen übernachteten.
Die Sonne berührte jetzt die höchsten Bäume. Das hier, dachte Kristine, ist die beste Zeit. Nicht mehr die Hysterie des Sommers, kein Sturm, keine Kälte, nicht die tückischen Jahreszeiten Spätwinter und Frühling mit plötzlichem Schneeregen und wilden Winden, sondern der September mit seiner ganz
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