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Wer den Tod begruesst

Wer den Tod begruesst

Titel: Wer den Tod begruesst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cindy Gerard
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bemerkte er ihre roten Zehennägel.
    Einzelheiten. Er hatte schon immer eine Schwäche für Einzelheiten gehabt.
    Er blickte beiseite. Die Alternative war, aufzustehen und sie mit seinem Körper gegen diese Leiter zu pressen, dann herauszufinden, wie er sie am schnellsten in die Horizontale und nackt bekommen könnte. Die Reihenfolge war ihm egal.
    Aber er hatte diese Diskussion mit sich bereits geführt und wusste, dass das nicht sein durfte. Also dachte er darüber nach, was sie ihn gefragt hatte. Und dann begann er zu reden und musste lächeln bei den Erinnerungen.
    Sobald er begonnen hatte, ließ sie ihn nicht wieder aufhören. Sie lockte ihn mit Lächeln, umschmeichelte ihn mit Lachen, freute sich über die einfachsten Geschichten, die er immer für selbstverständlich gehalten hatte. Aber in den frühen Morgenstunden, mit dem Wasser und dem Himmel und der Frau, die ihm zuhörte, wurde ihm langsam bewusst, dass es ganz besondere und sehr kostbare Erinnerungen waren.
    Einige hatte er schon vollkommen vergessen gehabt.
    »Wir hatten einen Feigenbaum in unserem Garten. Meine Mom war sehr stolz auf ihn. Einmal gab es einen furchtbaren Sturm, der einen der Äste eingerissen hat. Wir hörten, wie Dad davon sprach, ihn abzusägen, bevor er ganz abbrach. Er war damals noch sehr kräftig. Ich muss … ich weiß nicht genau … vielleicht fünf gewesen sein. Wie auch immer, eines Tages beschlossen Ethan und Dallas, diesen Ast für ihn abzusägen.
    Und dann saßen beide also auf dem Ast. Das Monstrum war mindestens drei Meter hoch. Also, sie sägten wie verrückt daran herum, und ich stand unten und jammerte, weil ich nicht mithelfen durfte.«
    Er unterbrach sich und lächelte bei der Erinnerung. »Endlich hatten sie ihn durchgesägt. Das Problem war nur, dass Dallas auf der verkehrten Seite des durchgesägten Astes saß.
    Als er durchbrach und herunterfiel, fiel er mit. Er wurde bewusstlos, und Ethan war zu Tode erschrocken. Ich als Nesthäkchen rannte schreiend ins Haus zu Mom und erzählte ihr, dass Dallas vom Baum gefallen war.
    Mom reagierte panisch. Sie packte mich bei der Schulter. ›Oh mein Gott, Nolan. Wie tief ist er gefallen?‹«, imitierte er seine Mutter. »Mit anderen Worten, wie viel Meter ist er gefallen? Aber weil sie so in Panik war, bekam ich es mit der Angst zu tun und brüllte. ›Von ganz oben, Mom! Er ist von ganz oben heruntergefallen!*«
    Er schwieg eine Weile. Schüttelte den Kopf und kicherte. »Mein Dad liebt es, diese Geschichte zu erzählen.«
    »Und Sie hören sie immer wieder gern von ihm.«
    Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf seine gespreizten Oberschenkel. »Ja. Ich schätze, das ist richtig.«
    Und das stimmte auch. Er erzählte gern von seiner Familie. Wurde ein wenig melancholisch, wenn er an sie dachte. Kam aus der Reserve. Denn bevor er sich’s versah, dachte er laut nach über Dinge, die er noch nie jemandem anvertraut hatte. Über Dinge, über die er selbst äußerst selten nachdachte.
    »Er ist ein ruhiger Mann, mein Vater. Redet normalerweise nicht viel. Ich habe ihn nie über seine Erfahrung in Vietnam reden hören. Und ich wollte es immer gern. Wollte seine militärischen Erlebnisse begreifen. Wie er sich gefühlt hatte, heimgekommen zu sein und sich Demonstranten gegenüberzusehen, wo er doch nur für das gekämpft hatte, weil er es für das Richtige hielt.«
    »Ich könnte mir vorstellen, dass er sich ziemlich genauso gefühlt hat wie Sie.«
    Ihre Blicke trafen sich kurz. »Nicht genauso. Sicher, bei uns gab es auch allerlei Friedensdemonstrationen, aber es war nicht zu vergleichen mit dem, was sie erlebt haben, als sie aus Vietnam zurückkamen.«
    »Haben Sie je darüber geredet? Mit irgendjemandem über Ihre Erfahrungen geredet?«
    Stille. Es war sehr still geworden.
    Und dann, bevor sein inneres Kontrollsystem eingreifen konnte, begann er zu reden. Begann einfach zu reden. Über Afghanistan. Über den Irak. Kleinigkeiten sprudelten einfach heraus. Dann größere Geschichten. Die Armut. Die Angst in den Augen der Kinder. Die Soldaten, die gestorben waren. Die von Bombenkratern übersäte Landschaft und der Sand, der sich in jede Pore setzte und in den Augen stach und wie er ihn immer schmecken konnte, wenn er aufwachte.
    »Ich liebte es«, hörte er sich sagen. »Und ich hasste es.«
    Und als er aufblickte und an der Position des Mondes am Himmel sah, dass er beinahe eine ganze Stunde lang geredet hatte, schüttelte er den Kopf und fluchte leise.
    »Warum

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