Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Junge?»
    Ich fahre zurück und stehe so steif da wie ein Zinnsoldat.
    «Mr. Lionel. Hallo, es tut mir leid.»
    «Nenn mich Jack, nenn mich doch Jack.» Er winkt und lächelt. «Ich fürchte, so spät wirst du keine guten mehr finden, mein Freund. Die letzten sind vor etwa vierzehn Tagen runtergefallen, schätze ich. Hingen zu viele am Baum dieses Jahr. Außerdem war ich krank, also hab ich sie einfach hängen lassen.»
    Ich schaue zu Boden. Ein klumpiger Teppich aus faulenden Pfirsichen erstreckt sich vor meinen Füßen. Es ist zwar Fallobst, doch es trägt nicht sonderlich dazu bei, meine Sorgen zu zerstreuen. Denn darüber schwirren Aberdutzende von Insekten. Hauptsächlich Bienen. Ich folge ihrer Flugbahn und entdecke ein Nest unter einer Regenrinne am Haus. Schwarze Ameisen eilen über ihre Straßen, Asseln und Würmer bohren sich in das weiche Fleisch. Märzfliegen, Schmeißfliegen, Hausfliegen. Der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind. Ich erstarre, und mir wird kalt. Die Sache läuft nicht länger nach Plan. Schaudernd weiche ich zurück. Ich muss pinkeln.
    Lionel will sich vorbeugen und die Ellbogen auf der Fensterbank aufstützen, doch ich halte ihn davon ab, bevor ihn jemand sehen kann.
    «Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind, sonst können die anderen Sie sehen», zische ich immer noch mit gesenktem Blick und hebe die Hand.
    «Wer?»
    «Kinder aus der Schule», flüstere ich halblaut. «Sie beobachten mich. Ich kann es jetzt nicht erklären. Aber sie dürfen nicht sehen, dass ich Sie kenne, Jack. Ich brauche ein paar von Ihren Pfirsichen. Ist das in Ordnung?»
    «Bedien dich, mein Junge», erwidert Jack lachend von drinnen. «Willst du eine Tasche oder eine Papiertüte? Ich habe einen Eimer in der Waschküche. Was habt ihr Bengel vor? Baut ihr eine Schweinefalle? Die Mistviecher lieben meine Pfirsiche. Kommen bis zum Haus. Ich hör sie nachts rumwühlen. Macht mich fast verrückt.»
    «Nein. Keine Tüte, aber vielen Dank.»
    «Wie du willst. Nimm dir, was du brauchst, Junge. Sie gehören dir.»
    Ich schaue zu Boden. Mein Atem geht schnell. Eine wuselige Insektenmetropole befindet sich dort unten. Schlimmer als in An Lus Garten, und es ist kein Jeffrey hier, um den Ball zurückzuholen. Meine Haut zieht sich zusammen. Es ist, als wäre ich jetzt schon von ihnen bedeckt. Als würden sie über meinen ganzen Körper krabbeln und kriechen. Ich presse die Hände zusammen und reibe die Handflächen aneinander.
    «Da sind ziemlich viele Bienen», sage ich.
    Jack Lionel zündet sich eine Zigarette an und schüttelt den Kopf.
    «Ach, kümmer dich nicht um sie. Die sind mehr oder weniger harmlos. Schau sie dir bloß an. Die sind halb besoffen. Völlig daneben.»
    «Wirklich?»
    «Ja, schau sie doch an. Sind zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Früchte sind vergammelt und gären in der Hitze. Deshalb sind die Bienen sternhagelvoll. Die tun dir nichts, Junge. Musst dir keine Gedanken machen.»
    «Sind Sie sicher?»
    «So sicher wie das Amen in der Kirche.»
    Ich starre auf den Boden. Vielleicht hat er ja recht. Sie sehen wirklich ungeschickt und träge aus. Vielleicht sind sie tatsächlich betrunken. Ich habe ohnehin keine Wahl. Ich muss mir ein Herz fassen.
    Außerdem wird mir klar, dass ich schon viel zu lange hier stehe. Das Ganze läuft keineswegs so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der Szene fehlt die erhoffte arrogante Leichtigkeit, die lässige Großspurigkeit. Und ich habe Angst, dass sie dort hinten schon Aufstellung genommen haben, um mich als Feigling zu beschimpfen, wenn ich mit einem Arm voller mickriger, verfaulter Pfirsiche auftauche. Sie werden sich fragen, warum ich hier so lange herumgestanden habe, obwohl es kein Anzeichen von Gefahr gab. Oder sie vermuten, dass ich etwas wusste, was sie nicht wissen. Vielleicht nehmen sie auch an, Lionel sei gar nicht zu Hause und ich hätte es die ganze Zeit über gewusst.
    Ich schaue hoch und an ihm vorbei, bis an die Wand seines dämmrigen Wohnzimmers, und mit einem Mal glaube ich zu wissen, was ich tun muss. Ich sehe einen Weg, mich unsterblich zu machen. Ich suche seinen Blick.
    «Hören Sie, Jack. Ich möchte Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Wie wär’s, wenn ich am Sonntag vorbeikomme und Ihnen das Abendessen koche?»
    Sein Gesicht leuchtet auf.

    Es ist der Stoff, dem es bestimmt ist, zur Legende zu werden, und nur Jack Lionel und ich werden je die Wahrheit kennen. Zweifellos wird sich das Geschehene mit den Jahren immer weiter auswachsen, und die