Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
würde sich ins endlose Universum fallen lassen, in eine Bahn, die nur ihm gehörte, wo andere links und rechts vorüberkamen, außerhalb seiner Reichweite, nur als schwaches Zittern in der Atmosphäre, vorüberhuschender Hauch. Vielleicht schwebte seine Mutter so dahin, die Arme wie Flügel ausgestreckt, mit dem Licht der Sterne wie Kristalle in ihrem schwarzen Haar. Und hinter ihr der weiche Flötenton. Die Alternative war, so weiterzumachen wie jetzt. Immer mit einem hechelnden Verfolger im Rücken. Ich bin müde, dachte er. Wer hat uns in diesem Rennen an den Start gepeitscht, wer erwartet uns auf der Ziellinie, wie verdammt weit müssen wir noch? Blut, Schweiß und Tränen. Schmerz, Trauer und Verzweiflung.
    Sie hatten eine Lichtung erreicht. Die Bäume wichen beiseite und eröffneten den Blick auf einen kleinen Hofplatz. Endlich hatte Morgan ihn eingeholt. Die Tasche klatschte auf den Boden. Seine Augen funkelten.
    »Ach, sieh mal an! Ein Häuschen, nur für uns. Hier können wir Papa, Mama und Kind spielen.«
    Er sah wirklich zufrieden aus. »Himmel, wie ich mich darauf freue, in das Haus zu kommen.«
    Er lief an Errki vorbei, auf die Tür zu. Errki sah den dunklen Fleck oben auf der Steinplatte, wo noch einen Tag zuvor seine dampfenden Eingeweide gelegen hatten. Morgan achtete nicht darauf, er stemmte die Hand gegen die morsche Tür und schob sie langsam auf. Dann schaute er ins Haus.
    »Dunkel und kühl«, stellte er fest. »Na los.«
    Errki stand noch am selben Fleck. Er versuchte, sich an etwas zu erinnern, aber dieses Etwas schnellte wie ein Gummiband zurück. Seine elastischen Gedanken quälten ihn schon seit Jahren.
    »Hier drinnen ist es schön. Komm jetzt.«
    Er schob Errki in den Raum, der früher, als das Haus von Hirten bewohnt worden war, als Wohnzimmer gedient hatte.
    Dann trat er ans Fenster.
    »Ein kleiner See. Perfekt. Sicher kann man da unten auch baden.«
    Er steckte den Kopf durch die Fensteröffnung mit der zerbrochenen Scheibe und nickte. Errki war plötzlich total erschöpft. Vorsichtig machte er einige Schritte in Richtung Kämmerchen.
    »Und wo willst du hin?« Morgan sah ihn an. Errki öffnete die Tür und starrte die gestreifte Matratze an. Zog Jacke und T-Shirt aus und ließ sich fallen.
    »Meine Güte, ein Etagenbett!« Morgan lächelte. »Von mir aus. Leg dich einfach hin. Solange ich weiß, wo du steckst.«
    Errki gab keine Antwort. Dachte nur, daß Schlafen das beste für ihn sei, denn ihm folgten ja doch nur Tod und Elend, und wer schläft, sündigt nicht. Er atmete schwer und regelmäßig.
    »Du warst ein prima Pfadfinder. Wir sprechen nachher weiter.«
    Sicherheitshalber überprüfte er das Fenster in der Kammer. Wollte wissen, ob Errki da entkommen könnte. Die Fensterscheibe war kaputt, aber die Sprossen saßen noch drin, und das Fenster ließ sich nicht öffnen. Es hatte sich im Rahmen verkeilt. Sollte Errki einen Fluchtversuch unternehmen, würde er das hören. Er ging zurück ins Wohnzimmer. Als seine Schritte sich entfernten, öffnete Errki die Augen. Er lag auf etwas Hartem, deshalb rutschte er ein wenig zur Seite. Der Revolver.

MÄCHTIG RAGTE DAS KRANKENHAUS zwischen den Bäumen auf. Der Anblick verschlug Sejer für einen Moment den Atem, er fuhr an den Straßenrand, hielt an und stieg aus. Blieb eine Stunde stehen, nahm den Anblick in sich auf. Er hatte das Gefühl, daß das Gebäude ihn anschrie: DAS HIER IST ERNST!
    Es stand auf dem höchsten Punkt der Umgebung. So sollte eine Anstalt aussehen, und so sollte sie der ganzen Welt zeigen, daß der Weg zum klaren Bewußtsein kein Rosengarten war. Wer das noch nicht begriffen hatte, würde es sicher hier begreifen, die Menschen, die in tiefster Verzweiflung herkamen und in diese Riesin von Anstalt geführt wurden.
    Die Straße war in schlechtem Zustand, sie war schmal und voller Löcher. Er hatte angenommen, daß sie in all den Jahren, seit er sie zuletzt befahren hatte, ausgebessert worden sei, aber das war nicht der Fall. Ihm fiel ein, daß er einmal als junger Beamter ein Mädchen hergebracht hatte, sie war auf der Toilette eines Busbahnhofs gefunden worden, nackt, hinter verschlossener Tür. Sie hatten die Tür aufbrechen müssen. Ihr Gesicht war angstverzerrt. Sie hielt eine Rolle Toilettenpapier in der Hand und fing sofort an, sich das Papier in den Mund zu stopfen, als enthalte es lebenswichtige, geheime Informationen, die sie mit ihrem Leben verteidigen müsse. Ihre Hand hing zwischen ihnen in der Luft. Sie

Weitere Kostenlose Bücher