Wer hat Angst vorm boesen Wolf
verursacht.«
So. Jetzt war es gesagt.
Sejer runzelte die Stirn. Jetzt, wo er gerade angefangen hatte, sie so gut leiden zu mögen, fand er es sehr ärgerlich, daß sie doch nicht ganz klar im Kopf war. Nicht die nüchterne, intelligente Frau, für die er sie gehalten hatte. Verflixt!
»Erzählen Sie«, bat er.
Sie richtete ihren Blick auf eine Statue im Garten, eine nackte Frau, die auf den Knien lag und auf das Krankenhausgelände starrte.
»Ich werde Ihnen von unserer allerersten Stunde erzählen, Errkis und meiner. Alle Patienten haben eine feste Therapeutin oder einen Therapeuten, außerdem gehören sie einer Gruppe an und gehen in Gruppentherapie. Tag und Stunde waren also gekommen. Ich wartete in meinem Sprechzimmer auf ihn, neugierig, ob er die Zeit einhalten würde, nachdem ich ihm den Weg gezeigt hatte. Und er kam ganz pünktlich. Ich nickte zum Sofa hinüber, und er setzte sich. Ließ sich einfach fallen. Ich konnte seine Augen nicht sehen. Es war still im Zimmer. Dieser Augenblick hat immer etwas Magisches. Die erste Stunde, die ersten Worte.«
Sie sprach leise und sehr langsam. Sejer spürte, wie er in ihre Gedanken hineingezogen wurde, wie er fast mit den beiden in dem Zimmer saß.
»Wir haben genau eine Stunde, fing ich an. Und heute werde ich bestimmen, wie wir diese Stunde nutzen. Er sagte nichts dazu. Ich ließ die Stille andauern, ich habe keine Angst vor Stille, es passiert immer wieder, daß sie in der ersten Stunde nicht viel oder auch gar nichts sagen. Selbst in der zweiten noch. Deshalb habe ich mich nicht gewundert. Er saß ganz entspannt da, schien sich auszuruhen. Er war nicht nervös oder ängstlich. Irgendwann beschloß ich, von mir zu erzählen, leise und ruhig.«
»Was haben Sie gesagt? Können Sie überhaupt über sich selbst sprechen?«
»Natürlich, innerhalb gewisser Rahmen.« Und jetzt schien sie zu deklamieren: »Ich soll persönlich sein, aber nicht privat; engagiert, aber nicht aufdringlich. Energisch, aber nicht scharf oder autoritär. Teilnahmsvoll, aber nicht sentimental . Und so weiter und so weiter. Ich sagte also zu Errki, daß wir, er und ich, eine Sprache finden müßten, nur für uns beide, die sonst niemand versteht. Die sonst niemand deuten kann. Mit >sonst niemand< meinte ich die Stimmen, die er in sich hört und die ihm das Leben sauer machen. Ich sagte, wir brauchten eine Möglichkeit zum Kommunizieren, und die solle unser Geheimnis sein. Ein Kode. Wenn er mir also etwas sagen wolle, solle er das kodieren. Ich würde es schon deuten können, wenn ich nur ein bißchen Zeit hätte, und es würde mein Problem sein, seinen Kode zu knacken.«
Sie legte eine Atempause ein.
»Aber er schwieg, und die Zeit verging, und ich wartete auf irgendein Zeichen. Am Ende wäre ich fast eingenickt. Seine Art war einfach so beruhigend. Er saß da, als ob das Zimmer ihm gehörte. Als er endlich aufstand, fuhr ich zusammen. Ohne mich anzusehen, ging er zur Tür. Das ist gegen die Regeln, also befahl ich ihm stehenzubleiben. Er drehte sich nur um und zeigte auf sein linkes Handgelenk, an dem er allerdings keine Uhr trug. Die Stunde war zu Ende. Es gab auch keine Wanduhr. Aber es stimmte, es waren genau sechzig Minuten vergangen.«
»Was haben Sie gemacht?« fragte Sejer neugierig.
Sie lachte leise. »Ich habe versucht, ihn auszutricksen. Ich sagte, wir hätten noch fünf Minuten, aber ich lächelte dabei. Und da kam das allererste Wort über seine Lippen. Das erste Wort, das er je zu mir gesagt hat. Gelogen.«
Sejer schaute aus dem Kantinenfenster auf den grünen Rasen. Ihm fiel ein, daß es schon spät war, daß er bald zur Wache zurückkehren mußte, am besten mit wichtigen Auskünften. Er hatte, seit er hier draußen war, noch nicht einmal ein Telefongespräch geführt. Vielleicht waren die beiden schon gefunden worden. Während er hier saß und sich in die Psychiatrie und ihre Geheimnisse hineinträumte. Oder in diese Frau. In alles mögliche. In eine andere Zukunft, als er bisher erwartet hatte.
»Danach«, sagte sie, »habe ich in mein Tagebuch geschrieben: Eins zu null für Errki.«
»Wie reagiert Errki, wenn er sich bedroht fühlt, was meinen Sie?«
Sie sah ihn an und machte beim Gedanken an die Lage, in der Errki sich befand, ein besorgtes Gesicht. »Er gibt nach, solange es geht. Er ist defensiv.«
»Aber wenn er nicht mehr nachgeben kann? Wenn er ausreichend bedroht oder provoziert wird, was macht er dann?«
»Ich habe vorhin schon versucht, das zu
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