Wer hat Angst vorm boesen Wolf
Kiosk. Vielleicht ist er einfach ins Haus gegangen. So ist er eben.«
»Und das hat sie wütend gemacht?«
»Sie konnte ganz schön böse werden, wenn wir nicht gemacht haben, was sie wollte. Und Errki tut nie das, was andere wollen.«
»Nein, genau. Es ist sicher besser, wenn wir ihn finden, meinst du nicht?«
»Kriegt er dann eine Zwangsjacke?«
Sejer lachte. »Laß uns hoffen, daß das nicht nötig ist. Aber vielleicht solltet ihr hier beim Haus bleiben, solange er noch unterwegs ist, und erst mal nicht in den Wald gehen. Bis wir genau wissen, was passiert ist.«
»Von mir aus.« Kannick nickte. »Margunn hat mir den Bogen weggenommen.«
Die Jungen drückten sich aneinander und sahen zu, wie er ins Auto stieg. Er hatte keine Zeit, mit ihnen zu sprechen, ein Windhauch aus einer anderen Welt zu sein in ihrer geschlossenen Gesellschaft. Sie musterten ihn mit einer Mischung aus Trotz und Achtung. Einige von ihnen waren schon mehrere Male mit der Polizei aneinandergeraten, über anderen hing diese Möglichkeit wie eine konstante Drohung. Der kleine Dunkle, der Simon hieß, winkte dem Wagen hinterher. Daran dachte Sejer, als er zum Landeskrankenhaus fuhr. Er dachte an diese kleine Gruppe von mürrischen Individuen, die mit dem Leben nicht zurechtkamen. Eine Gruppe, für die Sara Struel sich interessiert hätte. Eine Gruppe von Aufrührern.
»ELSI JOHRMA.«
Sejer blickte sein Gegenüber erwartungsvoll an. »Geboren am 4. September 1950. Sie kam am 8. Januar 1980 durch einen Unfall ums Leben und wurde hierher gebracht. Ich weiß nicht, ob sie schon tot war, als sie hier eintraf, oder ob sie später an ihren Verletzungen gestorben ist. Aber irgendwo in diesem Haus gibt es die entsprechenden Unterlagen. Wenn Sie so nett sein könnten und danach suchen?«
An den Augen der Krankenschwester war abzulesen, daß ihre Neugier geweckt war. Zugleich machte sie ein resigniertes Gesicht, denn es war Ferienzeit, sie hatten zu wenig Personal, und außerdem herrschte eine unerträgliche Hitze. Sejer schaute sich um. Es war ein enges Büro mit hohen Stapeln von Ordnern und Büchern. Von Komfort konnte keine Rede sein, er und die Krankenschwester füllten den Raum komplett aus.
»Das ist sechzehn Jahre her«, erklärte sie, als hätte er das nicht selbst schon ausgerechnet. »Inzwischen haben wir EDV. Aber im Computer ist sie wahrscheinlich nicht. Das bedeutet, daß ich im Archiv im Keller suchen muß.«
»Jahreszahl achtzig und Buchstabe J. Sicher kennen Sie sich da unten gut aus, und ich habe es nicht eilig«, sagte Sejer.
Die Krankenschwester war Mitte Zwanzig, sie war groß und kräftig und trug einen Pferdeschwanz. Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und sie starrte ihn über das rote Gestell hinweg an. »Wenn ich sie nicht gleich finde, müssen Sie später wiederkommen.«
Damit war sie verschwunden, und er wartete geduldig und hielt Ausschau nach Lesestoff. Er fand nur eine Zeitschrift der Krebsgesellschaft, und die erschien ihm wenig verlockend. Deshalb versank er in Gedanken. An einem Ort wie diesem konnte er seine Erinnerungen einfach nicht aussperren, die Erinnerungen an die Zeit, in der er selbst rastlos durch lange Gänge gewandert war, während Elises Körper getestet und analysiert und mit Medikamenten versehen und bestrahlt und immer schwächer wurde. Vor allem erinnerte er sich an den Geruch und an das Geräusch gedämpfter Stimmen. Er war weit weg, als die Krankenschwester wieder in der Tür stand. »Mehr konnte ich nicht finden.« Sie reichte ihm eine kurzgefaßte
Aufnahmebestätigung, gerade mal eine Seite.
»Aber«, fragte Sejer, »was ist mit dem Obduktionsbericht?«
»Der war nicht im Archiv.«
»Könnten Sie nicht doch noch einmal nachsehen? Das ist ziemlich wichtig.«
»Vor Sonntag schaffe ich das auf keinen Fall, wenn überhaupt. Auf die Schnelle habe ich nur das hier gefunden.«
»Danke«, sagte er resigniert. »Darf ich diese Bescheinigung mitnehmen?«
Sie reichte ihm eine Empfangsbestätigung, und er unterschrieb auf der gepunkteten Linie.
»Haben Sie noch zwei Minuten Zeit, während ich mir das durchlese?« bat er. »Bestimmt kommen da Fachausdrücke vor, von denen ich keine Ahnung habe.«
Die Krankenschwester ließ ihren Blick über das Papier gleiten und las laut vor: »Zum Empfang, 8. Januar, 16.45. Tod bei Eintreffen. Sichtbare Frakturen in Arm und Kiefer. Bedeutender Blutverlust.«
»Verzeihung«, sagte er rasch. »»Bedeutender Blutverluste. Sie ist doch eine Treppe
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