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Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Fangen, fangen! Und sie streckte die Hand in die Luft, wie um einen zu fangen. Und das machten wir auch.«
    Er legte eine Pause ein.
    »Festhalten, schrie sie, und wir packten zu und hatten schreckliche Angst, der Gedanke könnte wegfliegen. Und das tat er ja auch. Denn wenn wir die Hände öffneten, waren sie leer. Wir sahen nur Dreck und Schweiß. Es sollte eine Konzentrationsübung sein, aber wir waren nur verzweifelt. Erwachsene stellen schon eine Menge Mist mit Kindern an.«
    Bei diesem Gedanken schüttelte er resigniert den Kopf. »Errki hat das gleiche Problem. Entweder ist er verwirrt und bekommt seine Gedanken nicht zu fassen, oder er denkt immer wieder denselben. Das nennt man Zwangsvorstellungen. Ich kenne mich damit aus, ich habe mit solchen Leuten gearbeitet.«
    Sie hörten, wie Errki hinten beim Schrank leise grunzte.
    »Weißt du, warum er mich in die Nase gebissen hat?«
    »Keine Ahnung«, sagte Kannick mit dünner Stimme.
    »Ich wollte ihn in den Weiher da unten jagen, und das wollte er nicht. Er kann nicht schwimmen. Und er will nicht genervt werden. Also nerv nicht. Sonst beißt er dir ein Ohr ab oder macht noch was Schlimmeres.«
    »Kann ich jetzt gehen?« Kannicks Stimme war fadendünn. Er sprach so leise er konnte, denn Errki sollte ihn nicht hören.
    Morgan verdrehte die Augen. »Ob du gehen kannst? Warum zum Teufel solltest du? Willst du billiger davonkommen als wir? Hast du das verdient? Das hier ist unser Schicksal«, sagte er ernst. »Wir sind hier gefangen und warten auf die Polizei, und die will uns einsperren. Aber wir ergeben uns nicht freiwillig. Wir sind nämlich stolz und tapfer und geben uns nicht kampflos geschlagen.«
    Morgans Ton war berauscht, pathetisch. Er hört sich an wie Geronimo, dachte Kannick traurig. Nicht nur Errki war hier verrückt. Verrückt waren sie beide. Vielleicht war er selber verrückt. Im Grunde war das sehr schwer zu sagen. Er wohnte schließlich im Heim. Wenn auch in keiner Irrenanstalt, oder war es vielleicht doch eine? Er fühlte sich plötzlich elend und mußte einen Kloß hinunterschlucken. Auf irgendeine Weise gehörte er hierher, zu diesen beiden Männern. Das wußte er.
    »Lebt deine Mutter noch?« fragte Morgan plötzlich. Er hatte Kannicks Pfeil aus der Wand gezogen und betrachtete ihn.
    »Ich glaube schon«, sagte der Junge trotzig.
    »Na hört euch das an«, sagte Morgan spöttisch. »Bist du dermaßen verbittert, mein Junge? Erzähl mir nicht, du wüßtest nicht, ob sie noch lebt oder nicht. Meine Mutter lebt. Sie ist Frührentnerin. Und ich habe eine Schwester, die einen Schönheitssalon leitet.«
    »Dann kann sie ja deine Nase in Ordnung bringen.«
    »Schmink dir die Ironie ab. Meine Schwester verdient ziemlich gut. Lebt deine Mutter noch, Kannick?«
    »Ja.«
    »Auf Staatskosten?«
    »Hä?«
    »Was ich wissen will: Hat sie Arbeit, oder kriegt sie Sozialhilfe?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Schickt sie dir Geld?«
    »Nur ab und zu ein Paket.«
    »Dann geb ich dir einen Tip für deinen nächsten Geburtstag. Wünsch dir eine Packung Nutrilett.«
    Kannick wußte nicht, was Nutrilett war. Er dachte an seine
    Mutter, die er nur selten sah. Sie kam, wenn Margunn ihr richtig zusetzte. In der Regel brachte sie Schokolade mit. Er konnte sich nur mit Mühe an ihr Gesicht erinnern, sie sprachen nie viel miteinander. Die Mutter schien ihn nie wirklich zu sehen, und wenn sie ihn doch einmal kurz anblickte, zuckte sie zusammen und fuhr vor Entsetzen zurück. Plötzlich fiel ihm ein lange zurückliegendes Ereignis ein. Er ging in die vierte Klasse, kam aus der Schule, blieb in der Küchentür stehen und schaute zu ihr hinüber. Sie sah anders aus. Ihre Haare waren an nur einem Tag dreißig Zentimeter länger geworden. Innerhalb der wenigen Stunden, die er in der Schule verbracht hatte.
    »Hast du dir eine Perücke zugelegt?« stammelte er.
    Die Mutter ließ ihre Illustrierte fallen und schaute ihn unwillig an. »Natürlich nicht. Das sind echte Haare, angeschweißt.«
    »Was?«
    Er war so verdutzt, daß er sich einfach an den Tisch sinken ließ. Und die Haare waren noch nicht alles. Ihre Nägel waren plötzlich auch ganz lang, der Lack war tiefrot und blank wie der eines auf Hochglanz polierten Autos.
    »Wieso denn geschweißt?« fragte er neugierig. »Sitzen die fest?«
    »Ja. Das hält Wochen.«
    Langsam strich sie die Haare nach hinten, vom Haaransatz in der Stirn bis zum Hinterkopf, um ihm die Festigkeit der neuen Pracht zu demonstrieren. Die Mähne hatte

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