Wer hat Angst vorm starken Mann? - Mallery, S: Wer hat Angst vorm starken Mann?
gleich groß waren. Sie hatten schräge Wände und Erkerfenster mit breiten Fensterbänken, auf denen man sitzen konnte.
„Toll zum Lesen“, fand Raoul.
„Vor allem an Regentagen. Man bräuchte aber ein paar Kissen und vielleicht ein paar Decken.“
Raoul musterte sie aufmerksam. Pia sagte all die richtigen Dinge, aber irgendetwas war nicht in Ordnung. Das konnte er spüren.
Sie gingen hinunter in den ersten Stock. Das Elternschlafzimmer lag zum Garten hin. Raoul zeigte ihr das kleinere Zimmer, das man mit in das Schlafzimmer einbeziehen könnte, das große Bad und die vielen Einbauschränke.
„Es ist hübsch“, sagte sie. „Viel Licht und Platz. Mir gefallen vor allem die handwerklichen Details.“
Zurück im Erdgeschoss, erläuterte Raoul ihr, was er gern alles in der Küche machen würde. Dann ging er mit ihr in das Arbeitszimmer.
„Dieses Zimmer ist wirklich großartig“, sagte er. „Normalerweise mag ich Holzvertäfelungen eigentlich nicht so gern, aber die Mischung aus dem alten Holz und den großen Fensternist einmalig. Und dann die vielen Bücherregale.“
Er wartete darauf, dass Pia ihm ins Zimmer folgte, doch statt sich den Raum anzuschauen, machte sie einen Schritt zur Seite und verschränkte die Hände im Rücken.
„Pia?“
Sie schien völlig in Gedanken versunken. „Du hast das über einen Makler bekommen, oder? Josh gehört dieses Haus nicht.“
„Er hat mir jemanden empfohlen. Seine Häuser sind alle kleiner. Aber mit den drei Kindern, die wir erwarten, wusste ich, dass wir etwas Größeres brauchen.“
Sie schaute ihn an. „Hat der Makler irgendetwas über die Familie gesagt, die früher hier gewohnt hat?“
„Nein.“ Sein Magen zog sich zusammen. „Kanntest du sie?“
Sie nickte. „Das Haus hat meiner Familie gehört.“
Sie hatte hier gelebt? Ach, du meine Güte, was für ein Mist, dachte er. „Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mich hier den Fremdenführer spielen lassen?“
„Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, wieder hier in dem Haus zu sein. Ich wollte wissen …“ Sie starrte in das Arbeitszimmer. „Mein Vater hat da drin Selbstmord begangen. Ich habe ihn damals gefunden.“
Pia war ganz zufrieden, dass sie die Worte aussprechen konnte, ohne zusammenzuzucken. Es war fast so, als würde sie eine Geschichte über jemand anderen erzählen. Vielleicht war inzwischen genügend Zeit verstrichen, sodass die Vergangenheit ihr nicht mehr so viel anhaben konnte, obwohl sie da so ihre Zweifel hatte.
Sie drehte dem Arbeitszimmer den Rücken zu und ging hinüber ins Wohnzimmer. Hier ist es sicherer, dachte sie. Nicht so viele schreckliche Erinnerungen.
„Ich hatte damals das ganze Dachgeschoss für mich“, erzählte sie Raoul. „In einem Zimmer habe ich geschlafen, in einem der anderen standen Sofas und ein Fernseher. Meine Freunde sind immer hierhergekommen, weil ich so coole Elternhatte, die sich nicht darum gekümmert haben, was wir machten. Wir konnten die ganze Nacht aufbleiben, telefonieren und sogar Schnaps aus der Bar im Arbeitszimmer meines Vaters klauen. Ich hatte immer alles, was gerade in war. Alle haben mich beneidet. Sie glaubten, ich hätte unendlich viel Glück.“
Raoul schwieg, stand einfach neben ihr und hörte zu. Pia schaute aus dem Fenster, weil sie das Mitleid in seinen Augen jetzt nicht ertragen hätte.
„Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass weder meine Mom noch mein Dad sich in irgendeiner Weise für mich interessiert haben. Ich war einfach nur ein weiteres Statussymbol für sie. Wir alle haben immer nur auf Äußerlichkeiten geachtet. Ich war damals unglaublich egoistisch und gemein. Allerdings waren all die Klamotten, die ich besaß – viel mehr, als ich jemals hätte anziehen können – kein Ersatz für Eltern, die mich nie geliebt haben. Irgendwann hasste ich die anderen Kinder, die klüger waren oder die eine glückliche Familie hatten.“
Unbeabsichtigt schaute sie hoch und stellte erleichtert fest, dass Raouls Miene nichts von seinen Gefühlen verriet.
„Ich war gemein“, erklärte sie offen. „Ich habe alle getriezt, die nicht zu meinem Freundeskreis gehört haben. Ich habe mich über sie lustig gemacht, Gerüchte über sie verbreitet und gelogen. Und weil meine Eltern einen gewissen Status in der Stadt genossen, haben mir immer alle geglaubt.“ Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. „Du hättest mich gehasst.“
„Das bezweifle ich.“
„Doch, hättest du. Und ich
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