Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
könnte. Doch nachdem Constanze Mitglied jener Partei geworden war, die Kai nie bei ihrem richtigen Namen nannte, sondern immer nur verächtlich Die Guten (wenn er schlecht gelaunt war oder eine politische Diskussion ausnahmsweise einmal ernst nahm, auch Die Arglosen ), gelangte sie bei der folgenden Kommunalwahl als Mandatsträgerin in die Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg-Friedrichshain. Und wenige Jahre später schon ins Berliner Abgeordnetenhaus, wo sie jetzt in der zweiten Legislaturperiode Sprecherin für Jugend und Neue Medien war. Ausgerechnet Constanze, die nicht mal ohne seine Hilfe einen E-Mail-Account einrichten konnte oder ein Präsentationsprogramm installieren. Seitdem sie jedenfalls mit und bei den Arglosen Karriere machte, wählte Kai, ohne es ihr je gesagt zu haben, eine andere Partei, und zwar – nun ja: Die Bösen . Die machten zwar die Armen ärmer und die Reichen reicher, aber es war allein Constanzes Schuld, dass er diesem bigotten Pack seine Stimme gab.
Und weil er sich über diese Tatsache jetzt einmal mehr aufregte, war nicht nur das winterliche Eislaufidyll plötzlich wie fortgeblasen, sondern es fiel ihm nun auch noch das Lächeln wie von selbst aus dem Gesicht, worauf Constanze hörbar erleichtert ausatmete und sich wieder ganz ihrer überregionalen, linksliberalen Lektüre widmete.
Kai van Harm wickelte die Forellen aus dem nassen Mittwochskulturteil seiner eigenen Zeitung (wenn er ehrlich war, ein vollkommen inakzeptables, haltungslos opportunistisches Blatt aus den fernen Westberliner Mauertagen geistiger Isolation und finanzieller Vollsubventionierung durchs westdeutsche Hinterland, das stets der primitivsten Form des Mainstreams nachhechelte, immer nur einen halben Schritt neben dem schmierigen Boulevard stand und sowieso nur noch von jenem muffigen Ku’damm-Bürgertum gelesen wurde, dessen weiblicher Teil ab Herbst allen Ernstes noch Krägen aus Fuchs und Wiesel um die Specknacken trug, samt präparierter Klauen und Köpfe, versteht sich, und das obendrein so xenophob und antiintellektuell war, dass sich die Chefredaktion Mitte der neunziger Jahre gezwungen gesehen hatte, das »Feuilleton« in »Kulturteil« einzudeutschen) … während er also die Forellen auswickelte, dachte er, dass sich auf diese unspektakuläre Art die Dinge zwischen ihnen immer wieder normalisierten, waren sie erst einmal leicht aus dem Ruder gelaufen. Deswegen hatten Constanze und er, Kai van Harm, auch früher als irgendeines ihrer Freundes-oder Bekanntenpaare geheiratet. Und sie hatten früh, freiwillig und ohne Angst vor irgendetwas, mangelndem Geld etwa oder einem Zuviel an Verantwortung, Kinder bekommen. Und genau deswegen gab es nie Streit. So gut wie nie. Nein, gab es nicht.
Der Kanal, an dem er also an diesem bitterkalten Morgen entlangstrebte, während er seinen Gedanken nachhing, war so etwas wie die Lebensader des Viertels, seine, wenn eisfrei, träge dahinfließende Mitte, um die sich in jedem Sommer eine gelassene Stimmung ausbreitete. Eine fast mediterrane Laissez-faire -Atmosphäre, die in den Ferienwochen des August ihren Höhepunkt fand, wenn die Einheimischen samt ihrer Kinder auf den Balearen weilten, in Umbrien und der Toskana oder an den Stränden von Nord-und Ostsee lagen. Dann war die breite Kanaluferpromenade vom Stimmengewirr der europäischen Jugend erfüllt. Aus Italien und Frankreich strömte sie in die Stadt, aus England und Spanien, aus Skandinavien und Osteuropa, ja selbst aus Bayern und Baden-Württemberg kamen junge Menschen hierher, seit internationale Reiseführer nicht nur die altehrwürdige Admiralbrücke, sondern gleich das gesamte Kreuzberger Ufer zu einer Chillout-Zone ausgerufen hatten, in der es sich bei mitgebrachtem Flaschenbier und Joints entspannt in den Sonnenuntergang feiern ließ. Bevor es um Mitternacht weiterging in einen der angesagten Clubs, wo Kokain, diverse Amphetamine und die neuesten Spielarten elektronischer Musik zu bekommen waren. Dort tanzte man bis in den Morgen und stand dann, nass vom Schweiß und ein wenig fröstelnd, bei einer letzten Zigarette vor dem Eingang herum, sah die Sonne aufgehen und langsam in den klaren Himmel steigen, bevor man sich ein Taxi heranwinkte, das einen, berauscht und glückstrunken wie man war, ins Hotel oder die Jugendherberge fuhr.
So ähnlich jedenfalls war es Mitte der Neunziger gewesen, als van Harm selbst hin und wieder einen der Technoläden besucht hatte, mit Namen wie Tresor oder E-Werk , weniger
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