Wer ist Martha? (German Edition)
rasselt mit seinem Schüttelbecher. Und wieder läuft das Stubenmädchen an der geöffneten Aufzugtür vorbei. Lewadski schaut in ihren Korb. Was darin liegt, abgedeckt mit einer weißen Serviette, erinnert ihn an Himbeeren. Und wieder diese pendelnde Bewegung der Hand. Das Stubenmädchen biegt, wie es Lewadski scheint, singend um die Ecke. Die Tür des Aufzugs schließt sich. Kein Zweifel, sie singt, sie singt tatsächlich! Wieder presst Lewadski sein Ohr an die Tür. Neben dem Quietschen der Seile und Räder hört er ganz deutlich das Stubenmädchen singen.
Wir betreten feuertrunken ...
Alle Menschen werden ...
Wo dein sanfter Flügel weilt.
»Brüder! Brüder, heißt es!«, ruft Lewadski und fasst sich an die Stirn. Das ist die Neunte. Sie singt die Neunte von Beethoven!
Freude trinken alle Wesen ...
Alle Guten, alle Bösen ...
»An den Brüsten der Natur ...«, stimmt Lewadski leise mit ein.
»Seid umschlungen, Millionen ...«, antwortet ihm das Stubenmädchen.
»Dieser Kuss der ganzen Welt«, singt Lewadski verlegen in den Türspalt.
Im vierten Stock ist keine Menschenseele zu sehen. Lewadski streckt den Kopf aus dem Aufzug. Nur die Kristalltropfen der Wandlampen klirren leise. Es wird mächtig gesungen.
Froh, wie seine Sonnen fliegen ...
Laufet Brüder eure Bahn ...
Es kommt wohl aus dem Musikverein, denkt Lewadski, dieses Singen, anders kann ich es mir nicht erklären. Es sei denn, ein ganzer Chor versteckt sich im Hotel ... Eine rote Feder wirbelt durch die Luft, während die Tür des Aufzugs sich langsam schließt. Oder habe ich mich getäuscht? Vielleicht brennt das Haus? Eine blutverschmierte Vogelfeder und ein Feuerfunke sind nicht dasselbe. Doch jetzt ist es nicht von Belang, ob es brennt oder nicht.
In der fünften Etage hat es geschneit. Lewadski steigt aus und geht mit knirschenden Schritten über einen Teppich aus Federn. Das war sicher der Barmann, der mich überraschen wollte, staunt Lewadski. Wer sonst hätte so viele Kissen auf den Fußboden geleert? Nur dieser Schelm von Barmann, der mir eine Freude machen wollte hier heroben im letzten Stock. Als wäre es mein Geburtstag! Während Lewadski sich durch die weiße Pracht einen Weg bahnt, steigt in ihm ein leiserZweifel auf. Ist es wirklich Herbst? Hätte ich heute wirklich Geburtstag, müsste es Frühling sein. Oder doch Herbst? Lewadski bleibt wie angewurzelt stehen. An seiner Unterlippe klebt eine Daune. Eine andere Daune verklebt sein linkes Auge. Er wischt sich mit seinem Jackenärmel übers Gesicht. Die Federn auf dem Gang sind mit einem Mal verschwunden. Wie vom Wind verweht. Ob Sommer oder Winter, Tatsache ist, dass die fünfte Etage keine Fenster hat! Wie soll ich ins leere Nest blicken ohne Fenster? Die Hand an die Brust gepresst, läuft Lewadski den Gang entlang. Sein Gebiss fehlt. Es fehlt wie sein Trinkstock, den er auf seinem Zimmer vergessen hat. Als hätte er gewusst, dass er auf die Dienste dieser Accessoires heute gut verzichten kann. Also dann, warum erschrecken? Kein einziges Fenster, wer hätte das gedacht.
Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt’gen Plan ...
Freudig wie ein Held zum Siegen ...
Die Stimme des Stubenmädchens erklingt hinter einer der zahlreichen Türen. Lewadski ballt seine Hand zur Faust. Doch er wird nicht klopfen. Es ist die Freude, die wie ein Krampf durch ihn fährt. Ein Muskelkater ohnegleichen. Lewadski schleppt sich von Tür zu Tür mit vor Wonne geballten Fäusten. Hinter jeder Tür singt das Stubenmädchen. Hinter jeder Tür hört Lewadski ihr Lied.
Seid umschlungen Millionen ...
Brüder überm Sternenzelt ...
Über Sternen muss er wohnen ...
Am Ende des Gangs bleibt Lewadski schwer atmend stehen. Hier geht es nicht mehr weiter. Oder doch? Eine Brandschutztür steht offen. Eine kleine Treppe führt nach oben. Der Gesang des Stubenmädchens, der von überall her zu tönen scheint, blendet ihn, peitscht seine Augen, sein Gesicht.Er will knien, fallen und im Boden versinken, doch er hält sich an der Türklinke fest und blickt hinauf zum Kopf der Treppe, wo er im Halbdunkel die öligen Blätter eines Gummibaums erkennt und eine Tür, die sich, während er sie betrachtet, langsam zu öffnen beginnt.
Herr Lewadski?
Ja.
Herr Lewadski, wie heißen Sie mit Vornamen?
Luka. Luka Stepanowitsch.
Sie wurden geboren ...
Ja.
Wann wurden Sie geboren?
Ich weiß es nicht.
In welchem Jahr?
In dem Jahr, als Martha starb.
Wer ist Martha?
Sie hieß Martha!
Lewadski
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