Wer ist Martha? (German Edition)
sitzt beim Frühstück und wagt nicht, sich hinter der Morgenzeitung zu verstecken aus Angst, Sie zu verpassen.«
»An seiner Stelle würde ich nicht zum Frühstück kommen. Wozu die Erinnerung an gestern trüben durch so viel Tageslicht. Was gesagt werden wollte, wurde gesagt. Davongehe ich aus, obwohl ich mich an vieles nicht mehr erinnern kann.«
»Ich schaue gerne für Sie nach, ob Ihr Freund beim Frühstück sitzt. Oder kann ihm einen Brief von Ihnen überreichen. Eine Karte.«
»Sie sind lieb, Habib.«
In Habibs Nasenloch wuchern schwarze Spinnweben, ein winziges Insekt zuckt in regelmäßigen Abständen darin. Würde er niesen, flöge das kleine Ding in hohem Bogen aus seiner Nase, denkt Lewadski. Er möchte dem Butler etwas Nettes sagen, doch er schweigt zusammengesackt in seinem Sessel, während Habib mit gefalteten Händen auf etwas zu warten scheint.
»Ich bin ein alter Mann«, unterbricht Lewadski die Stille. Seine Stimme klingt dumpf, als wären die Wände des Zimmers mit dicken Teppichen und nicht mit Seidentapeten ausstaffiert. »Ich bin ein alter Mann«, wiederholt er entschieden, »ich werde bald sterben.« Auch das ist zum Lachen, denkt Lewadski. »Ich werde sterben«, sagt er noch einmal. Habib legt sein Kinn auf die Brust, als wollte er schlafen.
»In diesem Hotel bin ich nicht zum Vergnügen«, setzt Lewadski fort, »nicht dass Sie sich ein falsches Bild von mir machen.« Habibs Augen sind zwei frische, von Reif überzogene Gräber.
»Ich kam zurück in die Stadt meiner Kindheit; nicht einmal Kindheit. In die Stadt meiner seligen Mutter kehrte ich zurück. Zum Sterben, wie ich dachte. Doch das Geld wird dafür wohl nicht reichen. Mein Gott, bin ich so zäh geworden, zu zäh für den Tod?« Habib scheint fest zu schlafen. Eine Fliege kreist auf einer unsichtbaren Schallplatte über ihm.
»Selbst dass ich meine alte Wohnung betrogen habe und mich zum Verräter, zum Ehebrecher machte, schmerzt nicht mehr,so zäh bin ich geworden. Gegen eine luxuriöse Geliebte habe ich sie eingetauscht, gegen diese Suite, gegen Prunk und die ungewöhnlich reizvolle Aussicht – da die Apotheke, ein Kiosk, ein Taxistand, die Straßenbahngleise, Nebelkrähennester. All die gemeinsamen Jahre mit meiner Wohnung habe ich mit einem Federstrich eliminiert. Doch es schmerzt nicht mehr, es gibt etwas anderes, das schmerzt. Das ist die Freude.« Habib nickt, sein Kopf rollt zur Seite, aus dem Mund lugt die Zunge als rotes Fähnchen hervor.
»Alles, alles habe ich falsch gemacht, es stirbt sich plötzlich nicht, wie ich es vorhatte, nichts tut mir weh. Doch was tun, was tun, Habib, sterben muss ich, irgendwie muss ich den Löffel doch abgeben.« Aus Habibs Mund schlängelt sich ein junger, fast durchsichtiger Aal. Der Butler seufzt tief im Schlaf.
»Ich wünschte, ich könnte jetzt meinen Hausarzt anrufen und ihm sagen, es ist alles falsch, ich habe keine Beschwerden, ich sterbe ums Verrecken nicht, Herr Doktor, doch ich habe seine Nummer im Notizblock, und der liegt neben meinem Telefon. Es ist ein altmodisches Model, ich weiß nicht, ob Sie so etwas überhaupt noch kennen. Das Telefon verstaubt in meiner Wohnung, die ich gegen diese Suite hier getauscht habe. Gegen den Tod im Luxus. Wo er bleibt, möchte ich wissen. In der Stadt am Meer auf einer Parkbank, wo ich zu sitzen pflegte, stundenlang, bis mir kalt wurde. Da sitzt er vielleicht und spuckt auf seine Sense. Sitzt und spuckt seinen zischenden Speichel ... Auch wenn ich meinen Hausarzt anrufe und ihm von meiner unpassend guten Verfassung berichte, was nützt es mir? Es würde mir nicht schlechter gehen. Freilich könnte ich ihm vorwerfen, er habe mir falsche Hoffnungen auf den Tod gemacht, doch was hätte ich davon? Dass ich beschlossen habe, mein Siechtum und das nahende Ende im Luxus zuzelebrieren, ist mein Problem. Dass ich partout nicht dahinsieche und verende, ist auch mein Problem. Was kann der Arzt dafür, dass ich nicht mehr zurückkann? Dass ich auch hier nicht bleiben kann? Für ein paar Wochen wird das Geld noch reichen. Und dann?« In Habibs tiefem Schweigen spielt der Wind mit dem Brunneneimer. Eine Maus nagt am Seil.
»Meine Wohnung ist abgeschlossen. Staub verklebt die Bücher meiner Bibliothek und das kleine Radio und den Sender Harmonie der Welt. Staub und Asche von den Brücken, die brennen. Meine gute alte Wohnung. Ein Zurück gibt es nicht mehr, Habib. Es geht mir gut, das Ende ist nicht in Sicht. Verstehen Sie, was das bedeutet?« In
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