Wer ist Martha? (German Edition)
Leib, Herr Doktor. Lewadski tappt zum Fenster. Dass die Dunkelheit hereingebrochen ist, hat er nicht gemerkt. Hat er etwa geschlafen? Es ist Abend. Ein Abend im Herbst mit Nebelkrähen. Wie in einem Kaffeehaus, schmunzelt Lewadski, sitzen sie auf den Zweigen, Rücken an Rücken, die Nebelkrähen, wie an den Tischen in einem Kaffeehaus, und lüften den Allerwertesten, als wollten sie ihre Geldbörsen aus dem Federkleid ziehen und zahlen ... Ein Abend im Herbst mit Nebelkrähen und einem Vogelnest. Lewadski nimmt sein Opernglas und versucht, ins Krähennest zu schauen. Doch sein Fenster ist zu niedrig, und das Nest ist zu hoch.
Tot umfallen in zwei Wochen ... Dazu hat Habib kein Wort gesagt. Zu allem hatte er immer etwas zu sagen, und nun? Jedem Tierchen sein Pläsierchen, hätte meine Mutter gesagt. Sie hätte ihre Brille abgenommen, mich aus ihren plötzlich kleiner gewordenen Augen angeblinzelt und gelacht. Ohne Brille waren ihre Augen nackt; nackt und matt. Weiß Gott, ob sie grün, grau oder blau waren. Doch nackt waren sie ohne Brille. So nackt, wie ich ohne Gebiss wohl für die anderen bin. Wo sind sie alle? Wo ist Habib? Soll ich nach ihm läuten?
Lewadskis Blick wandert zum Telefon und der Taste mit dem Butler. Auf seiner unerschütterlich ruhigen Hand balanciert er ein Tablett mit einer dampfenden Kaffeetasse. In den letzten Tagen hat Lewadski die Taste nicht mehr gedrückt, und trotzdem kam Habib vorbei, erschien tagtäglich im Türrahmen, die Schönheit des Morgens beschwörend. Und nun? Lewadski steckt seinen Kopf zwischen die Gardinen. Eine beleuchtete Straßenbahn mit zwei Fahrgästen fährt vorbei: EineDame mit Pusteblumenfrisur wischt die Nase eines Kindes, über dem ein Schaukelpferd als bedrohliche Wolke schwebt. Ein Luftballon an einer dünnen Schnur, die Lewadski von seinem Posten aus nur vermuten kann.
Lewadski macht sich auf den Weg zur Tür. Der Waldrapp fliegt über die Alpen nach Süden. Sein Ziehvater in einem kleinen Flieger ihm voraus. Unhörbar ist das Ticken der inneren Uhr, unhörbar drehen sich die Propeller. Er tritt hinaus. Wie ein Duft breitet sich das Stimmengewirr aus dem Foyer über der Galerie aus. Mit zwei Schritten erreicht Lewadski den Aufzug und drückt auf die Taste, er drückt so lange, bis der Aufzug da ist. Der Barmann mit dem Schüttelbecher in der Hand tritt lächelnd zur Seite.
»Grüß Gott, gut geschlafen?« Lewadski bedankt sich, er habe schön geträumt. »Welcher Stock darf es sein?«
»Fünfter.« Der Barmann lächelt und wandert mit dem Zeigefinger über alle Tasten. Ein Schelm, denkt Lewadski.
Im ersten Stock steigt der Barmann aus und biegt, seinen Becher kräftig schüttelnd, nach links. Das Stubenmädchen aus Novi Pazar läuft leichtfüßig an der offenen Aufzugtür vorbei und winkt Lewadski, indem sie ihren geflochtenen Korb hebt und senkt. Genau diese Bewegung hatte Lewadski in jenem Kurort am Schwarzen Meer im Fenster eines Leuchtturms gesehen, kurz bevor ihm eine Lachmöwe ein Stück Torte aus der Hand riss. Du raubtest mir die Freude!, wird er ihr wohl zugerufen haben, mit dem Fuß aufstampfend, rot im Gesicht. Mit einem leisen Quietschen schließt sich die Aufzugtür, das Stubenmädchen singt auf dem Gang. Lewadski kann sie kaum verstehen, doch er hört sie, er hört das Wort Freude heraus. Schöner Götterfunken? Er stürzt zur Aufzugtür und presst sein Ohr an das kühle Metall. Er hat sich wohl verhört.
Im zweiten Stock bleibt der Aufzug ruckartig stehen. Zögernd öffnet sich die Tür. Hätte der Barmann nur nicht auf alle Tasten gedrückt, denkt Lewadski. Dieser Schelm ... Schon wieder steht der Barmann vor ihm. Lewadski tritt zur Seite. »Gut geschlafen?« Der Barmann bedankt sich mit einem kurzen, aber energischen Schütteln seines Bechers.
»Ich habe von Ihnen geträumt«, sagt er, »dass Sie die Bar mit Ihrem Besuch beehrt haben.«
»Wirklich wahr?«
»Ja, und dann tat sich hinter meinem Tresen eine Luke auf, die genauso aussah wie dieser Aufzug, da wollten Sie plötzlich auf Ihr Zimmer, und ich habe Sie nach unten begleitet. Haben Sie schon gedrückt?«
»Sie haben selbst vorher gedrückt – auf alle Tasten.«
»Ach wo, ich hatte nur die Tasten abgestaubt, aber jetzt!« Der Zeigefinger des Barmanns reckt sich zu den flachen goldenen Knöpfen. Flüchtig drückt er auf die Drei und die Vier. Eine gewisse Gründlichkeit gilt jedoch der Taste fünf.
Im dritten Stock steigt der Barmann aus. »Glück auf«, sagt er zu Lewadski und
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