Wer nichts hat, kann alles geben
Briefkasten. Ich erklärte meinem bisherigen Lateinlehrer, dass er es mir bitte nicht übelnehmen möge, aber ich würde seinen Unterricht von nun an komplett ignorieren. »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, antwortete
er nur, »aber die Arbeiten müssen Sie trotzdem mitschreiben.« Also gab ich in den noch verbleibenden Monaten nur noch Blätter ab, auf denen nichts anderes als mein Name stand. Die Lehrer dieser Schule behielten mich weiß Gott nicht in guter Erinnerung – ich sie aber auch nicht.
Vielen Lehrern kann man vermutlich gar keinen Vorwurf aus ihrer eigenen Lustlosigkeit machen, sie haben darunter mit Sicherheit genauso zu leiden wie ihre Schüler. Vielleicht machen sie sich am Anfang wenig Gedanken darüber, was sie erwartet, wenn sie sich für das Lehramtsstudium entscheiden. Oft steht nicht die Motivation im Vordergrund, junge Menschen auf einem Stück ihres Lebensweges zu begleiten, sondern das Interesse für einen bestimmten Stoff. Beim einen sind es mathematische Formeln, beim anderen vielleicht die Punischen Kriege und beim Dritten die Ursachen der Kontinentaldrift.
Dann geraten sie während der Ausbildung in ein System, das sich weniger um ihre pädagogischen Fähigkeiten kümmert als darum, abfragbares Wissen zu vermitteln, das in Lehrpläne gegossen werden kann. An sich spannende Themen werden in zähen Schulstoff verwandelt, der sich in Schularbeiten reproduzieren lässt, für die es dann Noten gibt. In einem solchen System ist die persönliche Entfaltung extrem schwierig. Und das kann keinen Spaß machen, weder den Schülern noch den Lehrern.
Nach meinem Verständnis sollte auch ein Schullehrer ein Geburtshelfer sein und ein Klassenzimmer
damit nichts anderes als ein Kreißsaal. Der Schulstoff ist nur Mittel zum Zweck. Jeder Mensch hat in sich eine bestimmte Begabung und gewisse Interessen. Der eine hat einen Hang zu Naturwissenschaften, der andere zur Kunst, der eine interessiert sich für Geschichte und der andere für Sprachen. Diese Interessen gilt es zu wecken und in Begeisterung für eine Sache umzuwandeln. Dann fangen die Menschen von ganz allein an, Engagement und Leidenschaft zu entwickeln. Nebenbei kommen unter dem Strich so auch bessere Noten heraus, die sowohl den Schülern als auch den Lehrern Freude machen.
Es hat dagegen keinen Sinn, den Schülern mit immer größer werdender Verbitterung einzuhämmern, wie wichtig doch eine gute Schulbildung sei. Wenn die Schüler dabei immerzu das Gefühl haben, nicht für das Leben zu lernen, sondern nur für die Noten, wird man sie mit solchen Appellen nicht erreichen.
Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage dieses Kapitels: Wie lernt der Mensch? Eine weitere Antwort auf diese Frage lautet: nicht durch Zwang, sondern nur durch Freude. Nur durch sie kann Eigeninitiative entstehen. Ein System dagegen, das mit Freude wenig anzufangen weiß, weil man für Freude und Begeisterung keine Zensuren vergeben kann, tut sich naturgemäß schwer, in Schülern die Lust am Lernen zu wecken. Und wenn dann noch Lehrer mit der Haltung in den Unterricht gehen, dass die Schüler froh sein können, von ihnen unterrichtet zu werden, kann man die Schulen eigentlich gleich ganz dichtmachen. Es
ist genau umgekehrt: Die Lehrer sollten glücklich darüber sein, dass sie junge Menschen auf einem Stück ihrer Weges begleiten dürfen.
Doch mit diesem Bewusstseinswandel allein wäre das Problem noch nicht gelöst. Wer das Abitur in der Tasche hat, hat damit dem Wort nach ja seine Reifeprüfung abgelegt. Doch kann man wirklich von »Reife« sprechen, wenn jemand die Welt nur aus Büchern kennt, erklärt von jemandem, der die Welt selbst hauptsächlich nur in Büchern bereist hat?
Dass es einen Unterschied macht, ob man etwas nur auf Papier vor sich hat oder ganz real, habe ich selbst eindrücklich erlebt, als meine Mutter mir eines Tages Geld für einen Kinobesuch schenkte. Die Eintrittskarten waren damals für mich noch unerschwinglich teuer, ein Kinobesuch deshalb eine große Sache. Und wie es sich für einen Sechzehnjährigen gehört, sah ich mir einen Kriegsfilm an, der für mein Alter eigentlich noch gar nicht geeignet war. Ich hatte also plötzlich das vor Augen, was ich bis dahin mit meinem Sitznachbarn auf der Schulbank immer nur simuliert hatte. Ich sah Menschen auf der Leinwand sterben. Die, die bei uns nur Strichmännchen gewesen waren, hatten plötzlich von Angst gezeichnete Gesichter und schrien vor Schmerzen, wenn sie getroffen wurden. Wo es
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