Wer nichts hat, kann alles geben
konnten. Manchmal stellten wir diese Übungen an den Nachmittagen auch auf dem Wohnzimmerboden nach: Dort verteilten wir Bodenschätze und Soldaten auf die einzelnen Länder und ließen sie aufeinander losmarschieren.
Latein, Geschichte oder Musik verloren für mich in dieser Zeit vollkommen an Bedeutung, wichtig war vielmehr jeden Tag aufs Neue, wer den Krieg gewann.
Im Alter von vierzehn Jahren kam es deshalb zum Unvermeidlichen: Mein Aufstieg in die nächsthöhere Klasse war gefährdet. Die Abschlussnote in Mathematik war zu schlecht, als dass ich damit hätte durchkommen können. Also musste ich mich einer sogenannten Entscheidungsprüfung stellen. In den Tagen davor verwandte ich wenig Mühen auf die Vorbereitung für diese Prüfung, weil ich mir dachte: Jetzt kannst du ohnehin nicht mehr viel ausrichten. Ich sah ein paar meiner Unterlagen durch, das war’s.
Als ich vor der Tafel stand, stellte mir der Lehrer eine Aufgabe. Meine erste Reaktion war: »Das ist aber nett, dass Sie mir das Leben so leicht machen.« – »Ja«, antwortete er nach der richtigen Lösung, »das war der einfachere Teil, jetzt kommt der zweite.« Der war das genaue Gegenteil von leicht, es war eine Mördergleichung. Und trotzdem gelang es mir relativ schnell, die Lösung an die Tafel zu schreiben, ohne lang herumzurechnen. Mir war beim Aufschreiben schon klar, wie diese Aufgabe zu lösen sein würde. Intuitiv, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Danach saß mein Mathematiklehrer da und schwieg, minutenlang.
Ich hatte schon Sorgen, dass er mir nun gleich sagen würde, dass es so auf gar keinen Fall gehen würde. Wenn ich den Lösungsweg nicht notieren könne, sei ich durchgefallen. Irgendwann, nachdem die Sorgenfalten
immer tiefer geworden waren, sagte er aber: »Ja, so kann man das auch lösen. Es ist wohl anders, als wir es im Unterricht gelernt haben, aber es funktioniert. « Und ich kam ein Jahr weiter.
Diese Episode zeigte mir schon damals, dass es keinen Sinn hat, sich die Beine auszureißen. Sondern dass es manchmal schlauer ist, loszulassen und sich auf sein Geschick zu verlassen, als sich zu versteifen. So entdeckte ich auch meine Liebe zur Mathematik, weil sie einem ermöglicht, anders zu denken, solange am Ende das Richtige herauskommt. Dann ist es egal, ob der Lösungsweg der erlernte ist oder der kreativere.
Die vierte Gymnasiumsklasse folgte. Die Papierschlachten im Unterricht wurden immer häufiger und die Noten in Mathematik und Latein mangels geistiger Anwesenheit immer schlechter. Als ich in den Lateinarbeiten nur noch auf zwei von fünfzig Punkten kam, war klar, dass etwas passieren musste. Die Lehrer gaben sich keine Mühe, Leute wie mich für den Unterricht zu motivieren. Ihre Haltung war: Wem es hier nicht passt, der kann ja auf die Hauptschule gehen, keiner wird gezwungen, hierzubleiben. Zu dieser Zeit kam der Wunsch in mir auf, selbst Lehrer zu werden. Ich war überzeugt, dass ich es besser machen würde als diejenigen, die Tag für Tag vor uns an der Tafel standen und uns mit ihrer »Vorschrift ist Vorschrift«-Haltung auf die Nerven gingen. Bei mir würden die Schüler mit einem Lächeln im Unterricht sitzen.
Doch es war offensichtlich, dass ich auf dieser Schule keine Zukunft mehr hatte und es mir unmöglich war, dort mein Abitur abzulegen. Also machte sich meine Mutter auf die Suche nach einer Alternative und fand sie schließlich in einem katholischen Institut, im »Oberstufen-Realgymnasium der Diözese Linz«. Dieses Gymnasium war eine relativ kleine Schule: drei Parallelklassen, die Schüler zwischen vierzehn und achtzehn Jahren alt, ein musischer und ein naturwissenschaftlicher Zweig. Weil ich mich für Naturwissenschaften interessierte, schien diese Schule die beste für mich zu sein. Doch würde ich mit den Lehrern dort zurechtkommen?
Jeder Bewerber musste zunächst persönlich beim Direktor vorsprechen, das fand ich toll. In diesem Gespräch sagte ich gleich zu Beginn: »Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Sie mich aufnehmen mit meinen schlechten Noten. Aber wissen Sie: Die Schule, auf die ich im Moment noch gehe, ist furchtbar.« Ich sprach nicht viel in dieser Zeit, aber wenn ich den Mund aufmachte, dann unverblümt und direkt.
Gott sei Dank stieß ich damit beim Direktor auf offene Ohren. Nein, meinte der, er sehe da keine Probleme. Latein beginne ohnehin von vorne, das eine »Ungenügend« im Zeugnis sei deshalb kein Hindernis. Wenige Tage danach landete seine Zusage im
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