Wer nichts hat, kann alles geben
mich nicht zum Glück, es hält mich vielmehr davon ab. Je mehr ich merkte, was es nicht ist, umso mehr bekam ich eine Idee davon, was es sein könnte. Meine Vermutung ist: So richtig weiß man es nie. Aber allein das Gefühl zu haben, auf dem richtigen Weg zu sein, macht schon sehr glücklich. Und doch werde ich unterwegs womöglich nicht darum herumkommen, an einzelnen Punkten eine neue Richtungsentscheidung treffen zu müssen.
Ob es mir zum Beispiel dauerhaft gelingen wird, tatsächlich von nur tausend Euro im Monat zu leben, wie ich es mir vorgenommen habe, kann ich noch nicht sagen. Einerseits ist mir bewusst, dass ich damit im Verhältnis immer noch mehr Ressourcen zur Verfügung habe als 90 Prozent der Weltbevölkerung. Andererseits verursacht auch das sparsamste Leben in unserer Gesellschaft so hohe Kosten, dass die tausend Euro schnell aufgebraucht sein können. Was ich allerdings sicher weiß, ist, dass ich mein Geld sehr viel bewusster ausgebe, als ich es früher getan habe, und dass ich darauf achte, mindestens die Hälfte meiner
Zeit für Dinge zu verwenden, die nicht dem Gelderwerb dienen.
Ein Inder, den ich in Innsbruck kennenlernte, fragte mich einmal, was der Sinn meines Lebens sei. Ich antwortete: SEIN! Das bedeutet für mich, meine Energie und Lebenszeit zu verwenden, um Glück, Zufriedenheit, Lebensfreude und ein inneres Lächeln entstehen zu lassen, bei mir wie bei anderen. Es geht mir ums Gesamtsystem, um meinem Beitrag zum großen Ganzen. Auch wenn ich das Wort Nachhaltigkeit nicht wirklich mag: Es ist mir ein Anliegen, meinen Beitrag für die Nachhaltigkeit im gesamtenergetischen Sinne zu leisten. Unser herkömmliches Denken basiert einzig auf Entnahme – Konsum ist ja nichts anderes. Doch wenn wir weiter nur entnehmen, wird irgendwann nur noch Leere übrig bleiben, in den Köpfen, den Herzen und den Seelen genauso wie in der Natur. Dem möchte ich entgegenwirken.
Wenn ich einen Wunsch habe, dann den, dass Sie dieses Buch als Gedankenanstoß verwenden und nicht als Vorlage. Ich möchte niemandem vorschreiben, wie er sein Leben zu führen hat, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich verstehe mich nicht als Missionar, sondern als Marillenernter. Ein Missionar geht zum Baum und sieht, dass ein Großteil der Marillen noch nicht reif ist, nur ein, zwei sind schon essbar. Nun stellt er sich unter den Baum und brüllt den Rest an: »Schaut euch diese beiden Marillen an, ihr müsst so werden wie sie.«
Ich dagegen bin lieber der, der sich fragt: »Wie viele Marillen möchte ich heute essen?« Wenn es eine oder zwei sind, pflücke ich die beiden. Möchte ich dagegen vier essen, muss ich mich fragen: Will ich eine noch grüne Marille ernten oder bleibe ich lieber geduldig? Kann ich erwarten, dass die Marillen ihren Reifungsprozess auf meinen Gusto abstimmen?
Jede Marille wird irgendwann reif, die eine ein paar Tage früher, die andere ein paar Tage später. Keiner sagt, dass die beste Marille die ist, die als Erste erntereif wurde. Es hat keinen Sinn, unreife Früchte anzubrüllen, sie werden dadurch nicht reifer. Bei den Menschen ist es genauso: Je mehr man sie zu etwas drängt, umso weniger rund laufen sie und umso unfähiger und unwilliger werden sie, sich zu entwickeln.
Man kann, um beim Beispiel vom Marillenbaum zu bleiben, überlegen: Braucht der Baum mehr Wasser oder vielleicht etwas Dünger? Braucht er vielleicht eine liebevolle Ansprache nach dem Motto: »Toll, du hast schon zwei Marillen ausreifen lassen. Eine nehme ich mir, esse sie gleich und sag dir, wie gut sie schmeckt.« Das tut vermutlich beiden gut. Und der Baum hat eine Motivation, die restlichen Marillen schneller reifen zu lassen. Aber er tut das dann aus eigenem Antrieb. Es ist würdig – und es ist ohnehin so, wie es ist. Die Marillen sind noch grün, man kann den Kopf in den Boden stecken oder hüpfen, bis die Knie wehtun – auch dadurch werden sie nicht schneller reif.
In meiner Funktion als Marillenernter möchte ich künftig Menschen dabei unterstützen, die Stimme ihres
eigenen Herzens wahrzunehmen. Und das am liebsten in der Wüste, weil es dort nichts gibt, was diese Stimme übertönen könnte.
Um mögliche Orte für solche Wüstenseminare auszukundschaften, reiste ich im Winter 2010 in eine dieser Wüsten. Wir, ein deutsches Ehepaar als Kontaktpersonen, zwei Beduinen und ich, machten uns in einem Jeep auf den sandigen Weg. Nach zwei Stunden war mir klar: Ein Jeep ist kein Fortbewegungsmittel für mich.
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