Wer nichts hat, kann alles geben
Tagesablauf an einem Arbeitstag aussieht. Wenn dann da zu lesen ist: Sechs Uhr aufstehen, hastiger Kaffee als Frühstück, 45 Minuten Fahrt ins Büro, elf, zwölf Stunden Arbeit, dann ist den meisten die Botschaft dieser Übung eigentlich schon klar.
Stehen Familie und Freunde ganz oben auf der linken Seite – wie verträgt sich das damit, bis acht Uhr abends im Büro zu sitzen? Wenn körperliche und geistige Gesundheit folgen – wie passt es dann dazu, dass der einzige Sport im Leben der ist, den man sich abends im Fernsehen ansieht und man den Geist nur mit intellektuellem Junkfood füttert? Mit einer solchen Gegenüberstellung konfrontiert, stellen viele fest, dass sie genau umgekehrt zu den eigenen Wünschen leben. Die unwichtigsten Werte stehen links ganz unten, verbrauchen aber die meiste Zeit und persönliche Energie. Und sie merken: Das kann es doch nicht sein.
Was man mit einer solchen Erkenntnis anfängt, muss jeder selbst wissen. Niemand kann es einem abnehmen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Doch wenn es mir am Ende einer solchen Veranstaltung gelungen ist, zu zeigen, dass es Lust bereitet, Eigenverantwortung zu übernehmen, und keine Last ist, dann ist schon viel gewonnen.
Denn eines ist sicher: Diese Verantwortung wird einem niemand abnehmen. Nicht die Politiker, nicht die Medien und nicht die Industrie. Wie groß die Auswirkungen sein können, wenn jeder Einzelne Veränderungen
in seinem Leben einleitet, zeigt ein Rechenbeispiel von Gregor Sieböck. Er hat schon viel früher als ich kapiert, dass er seinen eigenen Weg gehen muss. Nach seinem Studium und ein paar Auslandsaufenthalten erhielt er mit sechsundzwanzig ein mehr als verlockendes Angebot von der Weltbank, von dem sich viele andere gedacht hätten: »Wow, da bekomm ich mächtig Kohle, muss mir keinen Haxen ausreißen und habe für dieses Leben ausgesorgt.« Er jedoch stellte sich die entscheidende Frage: »Was will ich wirklich?« – und sagte der Weltbank ab. Denn was er wirklich wollte und immer noch will, ist, etwas dazu beizutragen, dass Menschen bewusster zu leben lernen und mit den Ressourcen unseres Planeten schonend umgehen.
Und so lief er einfach los. In drei Jahren wanderte er um die halbe Welt, gab dabei etliche Interviews und traf zahlreiche Menschen. Danach hielt er eine Vielzahl von Vorträgen und schrieb sein Buch Der Weltenwanderer , das seine Reise dokumentiert. Darin führt er folgendes Rechenbeispiel an: »Ich entscheide mich heute, bewusster, einfacher und verantwortungsvoller zu leben, und nehme mir ein Jahr Zeit, um diese Veränderungen umzusetzen und einen anderen Menschen dazu zu inspirieren, ebenso bewusst zu handeln. Im darauffolgenden Jahr sucht sich diese/r von mir bereits Inspirierte und ich jeweils wieder eine/n andere/n, bei der/dem wir die Sehnsucht wecken, ebenso zu handeln. Jahr für Jahr setzt sich diese Geschichte fort. Dabei braucht es lediglich dreiunddreißig Jahre,
um die Welt zu verändern, denn zwei hoch dreiunddreißig ergibt über neun Milliarden Menschen. Sie alle leben schließlich bewusster, wobei die Veränderungen von einem einzigen Menschen ausgegangen sind.«
Bei einem Kongress, der zum Ziel hatte, in den Köpfen einen Samen der Veränderung zu pflanzen, habe ich selbst einmal einen sehr inspirierenden Vortrag gehört, der mich noch lange beschäftigt hat. Er handelte von der Theorie der »Verhausschweinung« nach Konrad Lorenz, dem österreichischen Verhaltensforscher. Der Vortrag begann mit dem Bild eines Wildschweins, gefolgt von der Abbildung eines klassischen Mastschweins. Der Referent stellte die Frage, was die beiden voneinander unterscheide, nicht nur in der Außenbetrachtung, sondern auch in der Art und Weise, wie sich jedes Tier fühlt und welche Vorteile und Nachteile das eine gegenüber dem anderen hat. Es begann eine muntere Aufzählung: Das Wildschwein lebt in Freiheit im Wald und kann tun und lassen, was es will, das ist echt fantastisch. Auch der kalte Winter ist zu ertragen, wenn man sich vorher einen Winterspeck anfrisst. Wäre da nicht die große Angst eines jeden Wildschweins, auf unnatürliche Weise ums Leben zu kommen, indem es vom Jäger erschossen wird – jedes Schwein würde am liebsten als Wildschwein leben.
Aber auch das Leben als Mastschwein hat seine Vorteile. Es gibt keine Sorgen um das tägliche Futter, denn der, der es mästet, versorgt es, er hat ein eigenes Interesse daran, dass das Schwein schnell dick wird. Im Winter muss es nicht frieren,
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