Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
worauf man hinarbeitet«, hatte Becca gemeint.
Man kann generell sagen, dass Bergaufgehen die Muskeln strapaziert, Bergabgehen die Knochen und Haut. Ich ging steifbeinig, wie der Blechmann im Zauberer von Oz , der die Ölkanne sucht, um seine Kniegelenke zu schmieren. An meinen Zehen bildeten sich Blasen, weil ich vorne in meinen Stiefeln anstieß. Schließlich machte ich eine kleine Reißverschlusstasche an der Seite meines Rucksacks auf und holte ein weißes Plastikding heraus. Bis jetzt war ich ohne meinen iPod ausgekommen, weil ich den Kilimandscharo mit allen Sinnen genießen wollte. Ich wollte ganz da sein. Doch manchmal ist Musik das Einzige, was einem bei Schmerzen hilft durchzuhalten. Sechs Stunden lang stolperte ich den Weg hinunter und arbeitete mich durch meine Playlist. Als mein iPod schließlich den Geist aufgab, beneidete ich ihn. Der durfte einfach stehen bleiben. Dann sagte ich innerlich Gedichte auf, um meinen benommenen Geist wach zu halten. Als ich, T. S. Eliot rezitierend, das Moorland erreichte, das ich insgeheim Seuss-Land getauft hatte, versuchte ich mich an den Wortlaut von Wie schön! So viel wirst du sehn! z u erinnern. Ich hatte das Gedicht so oft gelesen, als ich mein Bewerbungsvideo für Yale drehte, dass ich es damals auswendig gekonnt hatte.
»Gesellst dich zu den Höhenfliegern, die sich in höchste Höhen schwingen …«, murmelte ich.
Da trat ich auf einen Stein und kam ins Stolpern. »Pole pole, Miss Noelley!«, rief Dismas von hinten. Plötzlich merkte ich, dass ich mich ein bisschen high fühlte. War das ein höhenbedingter Gehirnschaden? Benutzten hirngeschädigte Menschen Ausdrücke wie »höhenbedingt«? Wenn ich den Rest des Gedichtes noch zusammenkriegte, dann war das ein Beweis dafür, dass mein Hirn nicht geschädigt war, beschloss ich.
Immer weiter wirst du reisen,
Und ich weiß, du reist ganz weit
Und wirst deine Probleme lösen,
Denn dazu bist du jetzt bereit.
» BERGE WIRST DU VERSETZEN , KIND !«, brabbelte ich laut.
So viel wirst du sehn!
Heut ist dein Tag!
Dein Berg wartet schon,
Sei unverzagt!
»Was sagen Sie, Miss Noelley?«, rief Dismas.
Eine Viertelstunde später taumelte ich schon zwischen den schwarzen, dreieckigen Hütten von Horombo herum. Ich kaufte mir zur Feier des Tages eine Cola, aber da ich wusste, dass wir in wenigen Stunden schlafen gehen würden, sparte ich sie mir doch lieber für den nächsten Tag auf. Während wir uns bettfertig machten, putzte ich mir zum hundertsten Mal die Nase. »Komm, Noelle, die Träger haben doch schon genug zu schleppen«, witzelte Marie, als sie mein verdrecktes Handtuch sah, und ich erwog, ob ich sie nicht im Schlaf meucheln sollte. In dieser Nacht schlief ich am besten von allen Nächten, die ich auf dem Berg verbracht hatte. Ich brauchte zwar anderthalb Stunden, um einzuschlummern, aber das war doch etwas ganz anderes, als sechs Stunden wach zu liegen und mir zu überlegen, wie fest ich mir auf den Kopf schlagen musste, um bewusstlos zu werden, ohne mich dabei zu verletzen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich mir zum ersten Mal seit Jahren sicher, dass ich es schaffen würde, meine zehnjährige Schlaftablettensucht zu durchbrechen. Es war schwierig, sich nicht auf diese Krücke zu stützen, wenn sie immer zur Verfügung stand. Doch hier hätte ich mit einer Tabletteneinnahme mein Leben riskiert. Ich hatte erst in eine Situation kommen müssen, in der diese Möglichkeit ausgeschlossen war, bevor ich lernte, dass ich die Tabletten nicht brauchte.
Dank der kühlhausähnlichen Luft in unserer Hütte war die Cola köstlich kalt, als ich sie zum Frühstück aufmachte. Gierig trank ich. Sie prickelte auf meiner Zunge und hinterließ ein befriedigendes, knisterndes Brennen in der Kehle. Das war ohne jede Übertreibung das Leckerste, was ich jemals gekostet hatte.
Obwohl die heutige Strecke mehr als doppelt so lang war, würde sie sich nicht ansatzweise so brutal anfühlen wie der Weg von Kibo nach Horombo. Aber nach der gestrigen »Skifahrt« machten sich meine Knie schmerzlich bemerkbar. Ich bewegte mich mit zombieartig taumelnden Bewegungen. Marie und Henri galoppierten wie immer voraus. Was zum Teufel versuchten diese Scheißstreber eigentlich zu beweisen? »Denen ist doch klar, dass wir alle mit demselben Van nach Arusha zurückfahren und sie auf dem Parkplatz sowieso auf uns warten müssen, oder?«, knurrte ich.
Dismas grinste. »Pole pole, Noelle.«
Wir machten Mittagspause bei den Mandara Huts,
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