Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
bei Sonnenaufgang am Uhuru Peak sein.
»Schneller gehen, schneller gehen«, stieß ich immer wieder hervor, aber meine Kiefer waren wie betäubt, und die Worte hörten sich schleppend und undeutlich an.
Meine Oberlippe war so wund, dass ich aufhörte, mir die Nase zu schnäuzen. Der Rotz tropfte mir auf eine Haarsträhne und gefror zu einem Rotzzapfen. Wir marschierten an den Gletschern entlang, die majestätisch und weiß dalagen wie weiße Wale. Ich hörte Stimmen. Ich blickte immer wieder über meine Schulter zum östlichen Horizont. Die Sonne. Ich musste schneller sein als die Sonne. Als ich endlich oben war, reckte ich müde meine Faust in die Luft. Ich war überrascht, als ich erfuhr, dass ich von allen Wanderern, die um Mitternacht zum Gipfel aufgebrochen waren, als Vierte am Ziel gewesen war. Dabei hatte ich gedacht, ich hätte so viele Leute vor mir gehabt. Der Erste war ein bebrillter Mann aus Neuseeland, gefolgt von Henri und Marie, die eine halbe Stunde vor mir oben angekommen waren.
Ich hatte gedacht, dass ich extrem stolz auf mich sein würde, wenn ich den Gipfel erreicht hatte. Doch ich fühlte mich ganz klein. »Das Einzige, was einen auf diesen Berg hochbringt, ist der eiserne Wille«, hatte Becca gesagt, aber sie täuschte sich. Ich glaubte nicht, dass die Leute sechzehn Stunden flogen und vier Tage wanderten und am Ende umkehrten, weil es ihnen doch an Entschlossenheit fehlte. Auf dem Weg nach oben hatte ich einen Querschnittsgelähmten gesehen, dessen Freunde ihn mit Seilen hochzogen, die an seinem Rollstuhl befestigt waren. Ich hingegen hatte nichts von der Höhenkrankheit gespürt, keine Migräne, Erbrechen, Durchfall, Muskelschmerzen oder auch nur Blasen aushalten müssen. Das Wetter war perfekt gewesen – weder Regen noch Schnee. All das hätte mich jederzeit davon abhalten können, den Gipfel zu erreichen. Natürlich hatte Willenskraft ein bisschen damit zu tun. In erster Linie war es aber reines Glück, das einen so zufällig ereilte wie ein dummer, von einem betrunkenen Autofahrer verschuldeter Unfall, nach dem man vom Hals abwärts gelähmt bleibt. Ich war kein bisschen besser als die Leute, die es nicht geschafft hatten. In gewisser Weise brauchte man fast noch mehr Mut, um umzukehren und sich seine Grenzen einzugestehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, nach Hause zu fliegen und mich von meiner Familie und meinen Freunden fragen zu lassen: »Und, hast du’s bis auf den Gipfel geschafft?« Sich seinem eigenen Unvermögen zu stellen, den Schuldgefühlen und der Selbstbestrafung, die man unweigerlich auf sich niedergehen lässt, wenn man die eigenen Erwartungen nicht erfüllt hat – das ist mutig. Dass ich es bis auf den Gipfel geschafft hatte, war weniger eine Leistung als eine Erinnerung daran, dass ich in meinem Leben – ebenso wie heute auf dem Berg – unheimliches Glück gehabt hatte.
Natürlich war der Ausblick großartig. Um einen Vergleich anzustellen: Das Empire State Building ist 381 Meter hoch. Man müsste dreizehn davon aufeinandertürmen, um die Höhe des Kilimandscharo zu erreichen. Der Gipfel des Kilimandscharo war gleichzeitig der eindrucksvollste und bescheidenste Ort, an dem ich je gewesen bin. Dort oben stand nur ein Schild aus unbearbeiteten Holzbrettern, das verkündete, dass der Kili der größte freistehende Berg der Welt ist. Als ob das Schild wüsste, dass es mit der Aussicht nicht konkurrieren konnte, und es deswegen erst gar nicht versuchte. Ich blickte auf die schönen Gletscher hinab, die in zwanzig Jahren wahrscheinlich verschwunden sein würden. Und tatsächlich konnte ich die Erdkrümmung sehen. Plötzlich fiel mir auf, dass ich sie dieses Jahr schon zum zweiten Mal sah – das erste Mal war beim Skydiving gewesen.
Es gab einen scharfen Schnalzlaut, und ich sah, wie Dismas eine blau-silberne Dose an die Lippen setzte.
»Trinken Sie jetzt allen Ernstes einen Red Bull?« Ich lachte und starrte ungläubig auf den stark koffeinhaltigen Energydrink. Allerdings war es die einzige Flüssigkeit, die bei 23 Grad unter Null nicht gefror, was vielleicht noch besorgniserregender war als ihr Koffeingehalt.
Der Akku meiner Kamera war leer, als ich den Gipfel erreichte. Gott sei Dank hatte Becca mir gesagt, dass ich Ersatz mitnehmen sollte. Dismas machte Fotos von mir, wie ich vor dem Holzschild stand und meine selbstgemalten Tafeln hochhielt. Ich konnte es nicht erwarten, meine Eltern und Matt zu Hause mit den Fotos zu überraschen. Marie, Henri und ich
Weitere Kostenlose Bücher