Wer nie die Wahrheit sagt
werden konnte, der dreimal so groß war wie sie. Und sie konnte wunderbar Klavier spielen. Lily hatte vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an, bei Sherlocks und Dillons Hochzeit, gewusst, dass Sherlocks Liebe für Dillon tief und unverbrüchlich war. Beth war damals drei Jahre alt gewesen, so aufgeregt, ihren Onkel Dillon zu sehen, und so stolz auf ihre neuen Lackschuhe. Lily schluckte, riss sich zusammen und sagte: »Weißt du, dass du und Dillon die Sätze des anderen fertig sprechen könntet? Und jetzt macht euch keine Sorgen. Ich bin zwar ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber bis zum Mermaid’s Tail geht’s schon noch.« Sie umarmte ihren Bruder kurz und trat dann zurück. »Weißt du was, Dillon? Ich habe beschlossen, mal nach meinem Kontostand und meinen Kreditkarten zu schauen.«
»Was meinst du damit?«
Lily grinste nur. Er half ihr auf den Rücksitz, legte ihr sanft das Kissen auf den Bauch und befestigte ihren Sicherheitsgurt. Sie legte kurz die Fingerspitzen an seine Wange. »Ich bin froh, dass ihr aufgetaucht seid. Ich glaube nicht, dass ich noch genug für ein Taxi gehabt hätte.«
Savich schüttelte nur den Kopf über sie, fuhr dann noch einmal mit der Hand unter den Gurt, um sicherzugehen, dass er nicht zu streng saß, dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr los.
»Also, Lily«, sagte Sherlock dann und drehte sich zu ihr nach hinten um. »Du kannst es nicht länger rauszögern. Dillon wird bestimmt auch alles haarklein erfahren wollen. Jetzt erzähl uns von dem Kerl, der dich heute früh in diesem leeren Bus ausrauben wollte. Keine zwei Stunden ist das her.«
Savich mähte beinahe einen Hydranten um.
Sie saßen in einem kleinen mexikanischen Restaurant, dem Toasted Taco, in der Chambers Street, nur einen Block von ihrer Frühstückspension entfernt. Lily hatte gemeint, ihr Hunger überwiege nun doch ihr Ruhebedürfnis.
»Mmm, lecker, diese Salsa«, seufzte Lily, dippte einen weiteren Tortilla Chip in die scharfe Soße und schob ihn in den Mund. »Ein sicheres Zeichen dafür, dass auch das Essen gut sein wird. Menschenskind, ich glaube nicht, dass ich schon mal so einen Hunger hatte.«
»Los, nun rede schon«, sagte Savich ungeduldig.
Sie begann mit dem Busfahrer, der diese Beerdigung erwähnt hatte. Sie erzählte ihnen, mit welcher Hingabe er auf seinem Stuhl herumgehüpft war, den Kopfhörer auf volle Lautstärke aufgedreht, und von dem jungen Mann mit den drei Ohrringen im linken Ohr und seinem Klappmesser, dessen scharfe, silbrig glänzende Klinge beinahe in ihrem Herzen gelandet wäre.
Savich atmete hörbar aus, nahm sich dann ein Tortilla Chip und kaute abwesend. »Dir ist doch bestimmt auch schon der Gedanke gekommen, dass der Typ vielleicht mehr als nur einen Raub im Sinn hatte.«
»Na ja, so wie er redete, nahm ich an, dass er nur mein Geld wollte, aber mit Sicherheit kann ich’s nicht sagen, bin schließlich noch nie ausgeraubt worden. Und dann hat er’s selber versiebt, indem er dieses Messer zog. Aber eins weiß ich ganz sicher – ich konnte meinen Tod in seinen Augen lesen. Ich wusste einfach, dass das mein Ende war. Aber ich hab ihn mir vorgeknöpft, Dillon, hab’s ihm ordentlich gezeigt – all die Kniffe, die du mir beigebracht hast. Ich konnte dich richtig hören: ›Biete eine möglichst kleine Angriffsfläche‹, so was in der Art. Ich hab ihm den Ellbogen an den Adamsapfel geknallt – womm! Und dann hab ich ihm eins vor die Brust gedonnert und schließlich noch die flache Hand auf sein Ohr geklatscht – das hat ihm den Rest gegeben. Leider hat er sich wieder aufgerappelt, ist aus dem Bus gesprungen und davongerannt. Mann, Dillon, ich hab den Typ pulverisiert, von dem war nicht mehr viel übrig.«
Sie strahlte derart vor Stolz, dass Dillon sie am liebsten gedrückt hätte, bis sie quietschte, aber der Schreck saß ihm noch viel zu sehr in den Knochen. Sie hätte so leicht tot sein können.
Er räusperte sich. »Hast du die Polizei gerufen?«
Lily schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich wollte nur noch zurück ins Mermaid’s. Wieso glaubst du, dass es gar kein Räuber war?«
Savich spürte noch die Nachwirkungen seines Schrecks. »Das Ganze beunruhigt mich zutiefst, Lily, ehrlich. Das war ganz gewiss kein gewöhnlicher Straßenräuber. Hör zu, ein leerer Bus, ein Kerl, der sich unter dem Vorwand, dir die Brieftasche abknöpfen zu wollen, an dich ranmacht, damit du schön still bleibst, und dann zückt er auf einmal ein Messer? Nein, so
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