Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
1
Erster Tag
W alter und Dorothy Windsor saßen gemütlich beim Nachmittagstee und ahnten nichts davon, dass die gefürchtete Person heimlich durch das Tor geschlüpft war und genau in diesem Augenblick die weißen Steintreppen zu ihrem Haus hinaufschritt. Während Walter durch die New York Times blätterte und Dorothy die Symphonie mitsummte, die aus dem Radio erklang, drehte die junge Frau in Schwarz den Knauf der Eingangstür, ohne vom Haushaltspersonal des Windsor Mansion bemerkt zu werden. Ihre Schritte hallten durch die Grand Hall, als Walter gerade die Hand hob, um sie zärtlich an die Wange seiner Gattin zu legen. So lange war es her, dass sie glücklich gewesen waren, und jetzt, da ihre Enkeltochter endlich ein Teil ihres Lebens geworden war, sah es so aus, als sollten sie eine zweite Chance bekommen.
Plötzlich flog die Flügeltür zur Bibliothek auf, und alles Licht wich aus dem Raum. Dorothy stieß einen erstickten Schrei aus und umklammerte Walters Hand. Heißer Tee ergoss sich schmerzhaft über Walters Beine, weil er vor Schreck seine Tasse umgestoßen hatte. Einen Moment lang war das wilde Crescendo von Klavier und Streichern aus dem Radio das einzige Geräusch im Raum, dann fand Walter seine Stimme wieder.
»Rebecca«, keuchte er.
Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss, und Rebecca Windsor stolzierte auf die beiden zu, den Mund zu einem wissenden, freudlosen Lächeln verzogen.
Dorothy drückte sich ängstlich in die Arme ihres Mannes, konnte den Blick aber nicht von Rebecca losreißen, konnte nicht begreifen, wie eine Frau, die seit Langem tot war, so überzeugend als siebzehnjähriges Mädchen auftreten konnte. Sie sah genauso aus wie auf dem schaurigen Porträt aus dem Windsor-Familienalbum von 1888 – das gleiche kantige Gesicht, die stahlharten dunklen Augen und das schwarze Haar, aufgetürmt zu einer Frisur, die ihre scharf geschnittenen, abweisenden Gesichtszüge betonte. Die burgunderroten Falten ihres voluminösen viktorianischen Kleids umhüllten sie wie eine wallende Rüstung. Sie sah erschreckend lebendig aus, und doch hatte ihre Erscheinung eine Transparenz an sich, die sie nicht ganz menschlich wirken ließ.
»Was tust du hier?«, platzte Dorothy mit tränenerstickter Stimme heraus. »Wir haben alles getan, was du wolltest. Du hast gesagt, es wäre zu ihrem Schutz, aber du hast gelogen! Deinetwegen ist unsere Tochter tot!« Vor Kummer bebte sie am ganzen Leib, als sie an ihre letzte Begeg nung mit Rebecca zurückdachte und an die Schrecken, die sich danach ereignet hatten.
» Du hast versagt«, sagte Rebecca kühl. » Du hast es nicht geschafft, Marion von Irving fernzuhalten, deshalb ist sie tot. Und deshalb haben wir jetzt Michele am Hals. Du hättest die Geburt dieses Mädchens verhindern sollen, statt es in meinem Haus wohnen zu lassen!« Zornig hob sich ihre Stimme.
»Dies ist schon seit mehr als hundert Jahren nicht mehr dein Haus, Rebecca«, gab Walter zurück. »Es ist jetzt unser Zuhause, und wir sind die einzige Familie, die Michele hat. Sie wird so lange bei uns wohnen, wie sie möchte.«
»Die einzige Familie, die sie hat? Du vergisst wohl ihren Vater«, zischte Rebecca. »Nachdem ihr sie jetzt nach New York geholt habt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn findet. Das Mädchen hat Irvings Gabe geerbt.« Sie spie das Wort förmlich aus.
Walter und Dorothy starrten einander bestürzt an.
»Ja, es stimmt. Sie ist in die Vergangenheit gereist und hat alles verpfuscht. Genau wie ihr Vater, der mein Leben zerstören wollte und euch die Tochter genommen hat, hinterlässt Michele eine Spur der Verwüstung. Habe ich euch nicht gesagt , was mit Kindern geschieht, die aus vermischten Zeiten entstehen?« Rebecca senkte die Stimme und verlieh ihr einen trügerisch seidigen Tonfall. »Das einzige Mittel dagegen ist, die Vergangenheit zu verändern. Michele darf nicht existieren. Die Zeit ist gekommen, wir müssen noch einmal zusammenarbeiten.«
Dorothy presste sich die Hand vor den Mund, als würde ihr übel.
»Wir werden unserer Enkeltochter nichts zuleide tun«, knurrte Walter.
»Sie braucht nicht zu leiden. Wenn ihr meine Anweisungen befolgt, wird Michele einfach verschwinden, als wäre sie nie geboren. Obendrein bekommt ihr eure Tochter zurück.« Mit einem lockenden Singsang in der Stimme hielt Rebecca ihnen diese Mohrrübe vor die Nase. »Schließlich wäre Marion heute noch am Leben, wenn Irving und Michele nicht wären. Nicht wahr?«
»Hör auf
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