Das Mönchskraut
1. Kapitel
An jenem besonderen Morgen Anfang Dezember im Jahre 1138 ging Bruder Cadfael in friedfertiger Stimmung ins Domkapitel, fest entschlossen, den langweiligen, prosaischen Vortrag von Bruder Francis ebenso zu erdulden wie das umständliche juristische Geschwätz Bruder Benedicts, des Sakristans. Die Menschen waren unbeständig und fehlbar, und man mußte Nachsicht mit ihnen üben. Immerhin neigte sich das Jahr, das mit Belagerungen und Gemetzeln begonnen hatte, einem ruhigen, vergleichsweise glücklichen Ende entgegen. Die Wogen des Bürgerkriegs zwischen König Stephen und den Partisanen der Kaiserin Maud hatten sich zu den Südwestgrenzen verlagert, und Shrewsbury konnte sich allmählich erholen, nachdem es die schwächere Seite unterstützt und dafür einen blutigen Preis bezahlt hatte. Trotz aller Hindernisse, die der landwirtschaftlichen Arbeit im Wege gestanden hatten, war die Ernte nach einem wunderbaren Sommer erfolgreich eingebracht worden. Die Scheunen waren voll, die Mühlenräder kreisten, Schafe und Rinder gediehen prächtig auf den immer noch üppig grünen Weiden. Das Wetter blieb erstaunlich mild, nur am frühen Morgen ahnte man den nahen Frost. Vorerst mußte niemand frieren oder hungern.
Diese schöne Zeit würde nicht mehr lange dauern, aber zunächst war jeder neue Tag ein Segen.
In seinem eigenen kleinen Königreich war die Ernte reich und mannigfaltig gewesen. An den Dachrinnen seines Gartenschuppens hingen Leinenbeutel mit getrockneten Kräutern, Weinkrüge standen in Reih und Glied, auf den Regalen drängten sich Flaschen und Töpfe mit Arzneien, die alle Winterkrankheiten, vom Schnupfen über Gelenkentzündungen bis zu Keuchhusten kurieren würden. Die Welt sah viel erfreulicher aus als im Frühling, und ein Ende, das den Anfang übertraf, war stets zu begrüßen.
Und so begab sich Bruder Cadfael frohen Mutes zu seinem Sitz im Kapitelsaal in einer angenehm dunklen Ecke, versteckt hinter einer Säule, und beobachtete mit schläfrigem Wohlwollen, wie seine Brüder hereinkamen und ihre Plätze einnahmen: Abt Heribert, alt und sanftmütig und voller Sorge, gequält von dem schlimmen Jahr, das nun zu Ende ging; Prior Robert Pennant, hochgewachsen und aristokratisch, mit elfenbeinweißem Gesicht, silbernen Haaren und Brauen, stattlich und stolz aufgerichtet, als hätte er bereits die Mitra errungen, nach der er strebte. Er war weder alt noch gebrechlich, sondern ein scheinbar altersloser, sehniger einundfünfzigjähriger Mann, wenn er sich auch bemühte, wie ein Patriarch zu wirken, der sich einem heiligen Leben geweiht hatte. Vor zehn Jahren hatte er schon genauso ausgesehen, und in den nächsten zwanzig Jahren würde er sich ganz sicher nicht ändern. Bruder Jerome, sein Schreiber, folgte ihm getreulich auf den Fersen und reflektierte Prior Roberts Vergnügen oder Mißvergnügen wie ein kleiner Zerrspiegel.
Danach erschienen die anderen Amtsträger, der Subprior, der Sakristan, der Hospitalvorstand, der Almosenpfleger, der Krankenpfleger, der Wächter des Marienaltars, der Kellermeister, der Kantor und der Novizenmeister. Mit Würde und Anstand bereiteten sie sich auf eine Sitzung vor, die sich wohl kaum vom normalen Alltag unterscheiden würde.
Der junge Bruder Francis, mit einer nasalen Sprechweise und spärlichen Lateinkenntnissen ausgestattet, nahm seine Aufgabe, die Liste der Heiligen und Märtyrer vorzulesen, deren man während der nächsten Tage im Gebet gedenken wollte, sehr ernst. Dann erging er sich in einem frommen Kommentar über die Verdienste des Apostels Andreas, dessen Ehrentag soeben verstrichen war. Bruder Benedict, der Sakristan, bezeichnete es als recht und billig, daß er, der für die Instandhaltung der Kirche und der Enklave verantwortlich war, den größeren Anspruch auf eine Summe geltend machte, die man dem Kloster erstens zu dem genannten Zweck und zweitens zur Anschaffung von Kerzen für die Marienkapelle vermacht hatte. Für letztere war Bruder Maurice zuständig. Der Kantor nahm das Geschenk eines neu vertonten ›Sanctus‹ zur Kenntnis, das der Gönner des Komponisten gestiftet hatte.
Aber seine mangelnde Begeisterung für die großzügige Gabe ließ ahnen, daß er ihre Qualitäten nicht sonderlich schätzte und daß man sie nur selten zu hören bekommen würde. Bruder Paul, der Novizenmeister, brachte eine Klage gegen einen seiner Schüler vor, dessen Leichtsinn man weder seiner Jugend noch seiner Unerfahrenheit zugute halten konnte. Man hatte den
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