Wer nie die Wahrheit sagt
einen Jungen umgebracht, nur einen Steinwurf weit außerhalb von Chevy Chase in Maryland. Hat ’ne Nachricht auf der Leiche hinterlassen. Na ja, nicht direkt auf der Leiche, aber an der Leiche befestigt. Sie ist an dich adressiert, Savich.«
»Lies vor, Ollie.«
»Also gut: ›Ich krieg dich, und dann reiß ich dir den Arm aus und schneide dir deinen verfickten Kopf ab, du mörderischer Scheißkerl. Und dann verfüttere ich dich an die Ghule.‹«
»Muntert einen ja richtig auf«, bemerkte Savich. »War die Nachricht speziell an mich adressiert?«
»Ja, und das heißt, dass sie deinen Namen kennt. Wie? Alle glauben, sie hat wahrscheinlich die Leute im Krankenhaus über dich reden gehört. Hat überall auf dem Papier und dem Umschlag ihre Fingerabdrücke hinterlassen, ohne sich drum zu kümmern. Ach ja, und am Tatort war außerdem ein schwarzer Kreis aufgemalt, und der Junge lag darin. Einfach grausig, was mit ihm passierte. Armer Junge, war erst dreizehn Jahre alt.«
»Ein schwarzer Kreis?« Savich überlegte. »Dann hat Tammy also die Ghule gerufen, damit sie sich den Jungen in dem Kreis holen.«
»Ich hatte gehofft, dass es vielleicht gar nichts war, was du gesehen hast, Savich, dass es sich vielleicht um eine vorübergehende Sinnestäuschung handelte. Aber der Junge war schrecklich zugerichtet, Mann, mehr vielleicht, als man es einer einarmigen, verletzten Frau zutrauen würde. Ja, vielleicht waren diese Dinger – diese Ghule –, ja irgendwie mit verwickelt. Jimmy Maitland hat die Sache zur Sprache gebracht. Und die Oberbosse hatten deswegen sogar ein richtiges Meeting. Sind alle zu dem Schluss gekommen, dass du wohl nur Staubwolken gesehen hast.«
Savich sagte abschließend: »Mr. Maitland hat meine Nummer hier, falls er mit mir reden will. Und dann solltet ihr Folgendes tun: Sucht Marilyn Warluski.«
»Haben wir bereits. Ist längst weg, keiner weiß, wohin.«
»MAX hat rausgefunden, dass ein Exfreund von ihr in Bar Harbor, Maine, lebt. Heißt Tony Fallon. Schaut dort mal nach. Vielleicht ist sie ja bei ihm untergekrochen, und vielleicht weiß sie was. Tammy muss ja schließlich irgendwo hin, und Marilyn hat ihr und ihrem Bruder ja schon ihre alte Scheune zur Verfügung gestellt. Hat Tammy irgendwelches Geld gestohlen?«
»Im Krankenhaus nicht, aber vielleicht woanders. Kann sein, aber bis jetzt haben wir noch nichts gehört. Ungefähr ein Dutzend Autos wurden als gestohlen gemeldet. Dem gehen wir ebenfalls nach.«
»Also gut. Sucht Marilyn und quetscht sie aus, Ollie. Ich denke, das solltest du machen. Du weißt mehr als die anderen.«
»Okay. Lasst mich kurz mal Luft holen. Bin echt froh, dass ihr nicht im Telefonbuch steht und eine Geheimnummer habt. Unwahrscheinlich, dass sie euch dort auftreibt, wo ihr jetzt seid, aber ich möchte trotzdem, dass ihr vorsichtig seid, Savich, sehr vorsichtig.«
»Kannst dich drauf verlassen, Ollie.«
»Gut. Und wie läuft’s mit Lily?«
»Ist vor ein paar Stunden mit einem Kerl fertig geworden, der versucht hat, sie in einem leeren Bus zu erstechen. Clark Hoyt vom neuen Regionalbüro in Eureka überprüft alle Krankenhäuser. Bis jetzt noch nichts. Lily hat ein Porträt von ihm gezeichnet, und wir haben gerade von Lieutenant Dobbs von der Polizei in Eureka erfahren, dass der Typ ein kleiner Auftragskiller ist, ein skrupelloser Schurke, der selbst seine eigene Mutter für den richtigen Preis um die Ecke bringen würde. Heißt Morrie Jones. Die Polizei sucht überall nach ihm. Erst zwanzig Jahre alt, der Typ. Kaum zu glauben.«
Savich konnte förmlich sehen, wie Ollie besorgt den Kopf schüttelte, während er sagte: »Schwierigkeiten, nichts als Schwierigkeiten, von Küste zu Küste. Wird einem nichts geschenkt im Leben, stimmt’s?«
Lily schlief drei Stunden lang – ruhig und Gott sei Dank ohne Alpträume. Als sie erwachte, sah sie ihren Bruder in einem großen Ohrensessel sitzen, den er sich an ihr hübsches viktorianisches Himmelbett mit dem Baldachin herangezogen hatte. Über seine rechte Schulter ergoss sich der Schein einer langhalsigen Leselampe, und sein Kopf war über einen Stapel Papiere gebeugt.
Er blickte im selben Augenblick auf.
»Du bist ganz schön fix. Hab gerade erst ein Auge aufgemacht, und du wusstest sofort, dass ich wach war.«
»Sean hat Sherlock und mich innerhalb von wenigen Tagen dressiert gehabt. Braucht nur ganz leise zu gähnen oder zu stöhnen, und schon springen wir.«
Sie brachte ein mühsames Lächeln zustande,
Weitere Kostenlose Bücher