Wer nie die Wahrheit sagt
umgedreht.
Charlottes Stimme klang nach wie vor samtig und weich wie zäh fließender Honig. »Also bitte, meine Lieben, wir sollten doch die Contenance bewahren. Lily, Liebes, du bist eine erwachsene Frau. Mein Tennyson empfindet einen genauso starken Beschützerinstinkt für seine kleine Schwester wie dein Bruder für dich. Aber dein Bruder und seine Frau sind zu weit gegangen. Aus irgendeinem mir unverständlichen Grund mögen sie meinen Sohn nicht. Aber sie haben keinerlei Beweis für ihre Anschuldigungen, nicht einen Hauch von Beweis. Alles irrwitzige Anschuldigungen, nichts weiter. Lily, wie kannst du meinem Sohn nur so etwas zutrauen?«
»Also ›irrwitzig‹ würde ich sie nicht nennen, Ma’am«, meinte Sherlock daraufhin, »aber ja, es stimmt, wir haben keinen Beweis. Wenn wir den nämlich hätten, dann säße Ihr Sohn jetzt schon hinter schwedischen Gardinen.«
Charlotte säuselte: »Und wieso vergiften Sie dann weiterhin Lilys armen Verstand? Sie leisten ihr einen schlechten Dienst, denn sie ist alles andere als gesund, und Sie treiben sie da gnadenlos in eine Richtung, von der wir alle sie doch von ganzem Herzen abhalten möchten.«
»Mutter …«
»Nein, es ist wahr, Tennyson. Lily ist seit einer Weile nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Sie muss zu uns nach Hause kommen, damit wir uns um sie kümmern können.«
Lily sagte mit lauter, klarer Stimme, die aller Augen wieder auf sie lenkte: »Heute Vormittag hat ein Typ versucht, mich umzubringen.«
»Was? O Gott, nein!« Tennyson wollte sie förmlich hoch und in seine Arme reißen, aber Lily gelang es, sich ans Kopfbrett zu pressen und zu bleiben, wo sie war. Ihn abwehrend fuhr sie fort: »Nein, Tennyson, es geht mir gut. Der Anschlag ging fehl, wie du ja siehst. Tatsächlich habe ich ihm sogar gehörig eins aufs Maul gegeben. Die Bullen kennen das Früchtchen. Und jetzt bleib mir vom Leib, bevor meine Schwägerin dich beißt.«
Sherlock lachte.
»Das stimmt«, warf Savich ein. »Er heißt Morrie Jones. Klingelt’s da bei dir, Tennyson? Charlotte? Nein? Na, ihr habt ihn jedenfalls verdammt schnell auf Lily angesetzt. Haltet wohl nicht viel von Zeitverschwendung, wie? Er wird den Bullen jeden Moment ins Netz gehen, und dann wird der Knabe reden. Dann haben wir unseren Beweis.«
»Wieder eine Lüge, Lily. Dieser Kerl muss dich mit jemand anderem verwechselt haben, entweder das, oder er war einfach nur ein rabiater Handtaschenräuber. Wo ist das denn passiert?«
»Stimmt, du konntest ja nicht wissen, wo er mich suchen soll. Ist in einen Stadtbus gestiegen, in dem außer mir und dem Fahrer sonst niemand drin saß. Wegen der Beerdigung.«
»Ja«, säuselte Charlotte, »der arme alte Ferdy Malloy ist gestorben. Wurde wahrscheinlich von seiner Frau vergiftet. Alle wissen es, aber keiner traute sich, eine Autopsie zu fordern, am wenigsten der Leichenbeschauer.«
»Ja, ja, aber das ist jetzt nicht wichtig, Mutter. Jemand hat versucht, Lily etwas anzutun.«
»Der Kerl ging mit dem Klappmesser auf mich los! Ja, ich würde sagen, der wollte mir tatsächlich was antun«, meldete sich Lily wieder zu Wort. »Zum Glück hat mir Dillon beigebracht, wie man sich seiner Haut wehrt.«
»Vielleicht, nur vielleicht«, sagte Tennyson nun sanft und leise in seiner patentierten Arzt-Patient-Stimme, »war da dieser junge Mann, der dich angesprochen, ja vielleicht sogar um eine Verabredung gebeten hat. Ich weiß, Dr. Rossetti glaubt, dass eine junge Frau, deren Gemütszustand so labil, so leicht zu erschüttern ist wie deiner, deren Geist verwirrt ist, sich viele Dinge einbilden kann, um ihre Erkrankung zu verschleiern …«
Lily, die ihn währenddessen angestarrt hatte, als wären ihm plötzlich zwei Radioantennen aus dem Kopf gesprossen, sagte empört: »Wie konnte ich je glauben, dich zu lieben? Du bist das größte Arschloch.«
»Das bin ich nicht. Ich versuche doch nur, dich zu verstehen, dich dazu zu bringen, der Realität ins Auge zu sehen. Im Übrigen ist das genau das, was Dr. Rossetti denkt.«
Lily begann zu lachen, richtig herzhaft zu lachen, und konnte eine ganze Weile nicht mehr damit aufhören. Schließlich wischte sie sich die Augen und sagte: »Mann, ihr seid echt gut, Tennyson, du und dein Dr. Rossetti. Ihr habt versucht mir den größten Mist zu erzählen, den euer Psychiaterverstand hergibt, dazu noch die passenden Pillen, um mir den Rest zu geben. Kein Wunder, dass ich Schluss machen wollte. Also hab ich mir den Typen bloß eingebildet, um
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