Wer nie die Wahrheit sagt
fest in die Arme und spürte, dass sie kalt war wie ein Eiszapfen. »Was ist los? Ist was passiert? Es ist Sean, oder? O Gott, unserem kleinen Jungen ist was zugestoßen!«
Sie schüttelte den Kopf, brachte aber noch immer kein Wort heraus.
Er wich ein wenig zurück, sah, dass ihr die nackte Angst aus den Augen sprach, und schüttelte sie behutsam. »Bitte, Sherlock, nun sag schon. Sag mir, was los ist!«
Sie schluckte und schaffte es schließlich, Worte zu finden. »Sean geht’s gut. Ich habe im Büro angerufen. Hörte, wie Ollie im Hintergrund rief, er müsste unbedingt mit uns sprechen. O Gott, Dillon, Ollie sagt, dass Tammy Tuttle gerade aus dem Krankenhaus ausgebrochen ist. Ist einfach aufgestanden und aus dem geschlossenen Trakt des Patterson-Wright Hospitals rausmarschiert.«
»Nein«, stieß Savich mit einem fassungslosen, ungläubigen Kopfschütteln hervor, »du machst Witze.« So etwas passierte in der Wirklichkeit einfach nicht. Sie war äußerst gefährlich, das wusste jeder in diesem Krankenhaus. Noch immer starrte er seine Frau an, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie einen Scherz mit ihm gemacht hatte, fand aber keins. »Das ist unmöglich«, sprach er wie in Trance weiter. Das erste Aufflammen von Panik war vergangen, aber akzeptieren konnte, ja wollte er die Nachricht nicht. »Sie war doch im Gefängnistrakt. Man hat sie scharf bewacht. Die Frau ist vollkommen verrückt. Jeder weiß, was sie getan hat. Sie konnte nicht einfach rausmarschieren.«
»Sie wollten sie morgen oder übermorgen festschnallen, so bald es ihr gut genug ging, um erneut eine Gefahr darzustellen. Doch dann geriet offenbar der Wachplan irgendwie durcheinander. Anscheinend hat sie da schon auf ihre Chance gewartet. Als die kam, hat sie sich eine Krankenschwester geschnappt, sie k.o. geschlagen und ihre Schwesternuniform angezogen. Wenigstens hat sie ihr Opfer nicht getötet. Aber sie ist rausgekommen.«
»Es ist doch kaum eine Woche her, seit man ihr den Arm amputiert hat. Woher nahm sie da die Kraft, eine Schwester zu überwältigen? Die sind gewalttätige Patienten doch gewöhnt; die wissen, wie sie mit denen umzugehen haben. Sie hat doch bloß einen Arm, Menschenskind.«
»Na, offenbar konnte sich keiner vorstellen, dass sie die Kraft dazu hat, und so ist es passiert, als es zu diesem Fehler im Bewachungsplan kam. Da hat sich doch kein Schwein richtig gekümmert. Und deshalb haben sie ihr Verschwinden auch erst bemerkt, als eine andere Schwester kam, um ihr ’ne Spritze zu geben und ihre Kollegin nackt und gefesselt im Schrank vorfand. Die schätzen, dass sie einen Vorsprung von mindestens zwei Stunden hat.«
Savich schüttelte sich. Jetzt konnte er wieder denken. »Also gut. Wo würde sie wohl hingehen? Gibt es irgendwelche Vermutungen?«
»Ollie sagt, dass mehr Cops nach ihr suchen als damals nach Marlin und Erasmus Jones. Alle wissen, wie schrecklich sie ist und wie gefährlich. Keiner will, dass sie wieder frei rumläuft.« Sherlock räusperte sich. »Da wäre noch die Frage nach diesen Dingern, die du in dieser Scheune gesehen hast, Dillon – die Ghule.«
Er drückte sie nochmals an sich und sagte, den Mund an ihrer Schläfe, das Kitzeln ihrer Locken an der Nase: »Ich weiß, was ich jetzt, in diesem Moment, tun will. Ich will Sean anrufen und ihn gurgeln und quietschen hören. Dieser kleine Bursche ist so normal, so gesund, und genau das ist es, was wir jetzt brauchen, eine fette Prise Normalität.« Was er nicht sagte, war, dass er mit letzter Sicherheit wissen musste, ob es seinem kleinen Burschen auch wirklich gut ging. Was die Ghule betraf – wenn sie real waren, und Savich wusste bis in die Knochen, dass sie es waren, um was immer es sich dabei auch handeln mochte –, dann bestand möglicherweise eine weit größere Gefahr, als sich irgendjemand vorstellen konnte. Würde das FBI allen, die nach Tammy Tuttle fahndeten, mitteilen, dass sie möglicherweise Komplizen hatte? Oder würde man seine Beobachtungen einfach ignorieren?
Abwechselnd gurgelten und plapperten sie einmal mit ihrem kleinen Sohn, der diesmal an einer Banane und nicht an einem Grahamcracker nagte. Dann riefen sie Ollie zurück, um zu hören, ob es vielleicht schon Neuigkeiten gab.
»Ja«, sagte Ollie Hamish, »aber keine guten«. Sherlock konnte ihn vor sich sehen, wie er sich auf seinem Schreibtischsessel zurücklehnte und ein wenig hin und her drehte, weil er nervös war und, ja, auch Angst hatte. »Tammy Tuttle hat gerade
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