Wer Schuld War
während er dem beruhigenden Geräusch der laufenden Dusche lauscht, wacht auf, als sie ihm einen leichten,
nach Zahnpasta riechenden Kuss auf den Mund gibt, und schläft danach genussvoll wieder ein, die Erkenntnis mit in neue Träume
nehmend, dass zu Julianes herausragenden Qualitäten ihr Beruf gehört, der sie zwingt, sich morgens um halb acht zu verabschieden
und Alex das Bett zu überlassen.
Der Polizist klingelt um halb zehn. Alex vollzieht in aller Ruhe seine letzte Morgenübung der »Acht Brokate« (die Ferse heben
und den Rücken fallen lassen und hundert Krankheiten vertreiben), bevor er öffnet, eine Spur missgestimmt, denn er erwartet
keinen Besuch, und es ist ihm wichtig, den Tag entspannt zu beginnen.
Der Polizist steht so dicht vor der Tür, als wollte er gleich seinen Fuß hereinschieben; er ist ein gutes Stückgrößer als Alex und etwa im selben Alter, er trägt Jeans, ein schwarzes T-Shirt und einen verschossen aussehenden schwarzen Blazer. Er zeigt Alex seinen Ausweis und stellt sich als Kriminalkommissar Klaus
Kreitmeier vor. Alex, sowohl durch diese ungewöhnliche Häufung von Alliterationen als auch durch die geradezu absurde Ähnlichkeit
dieses Auftritts mit einschlägigen Szenen aus entsprechenden T V-Produktionen etwas aus dem Konzept gebracht, bittet den Mann herein, bevor der überhaupt danach gefragt hat, was Alex erst auffällt, als
sie schon auf dem Weg in seine Wohnküche sind.
Glücklicherweise ist sie aufgeräumt. Julianes ausgeprägter Ordnungssinn ist, neben ihrem Beruf und ihrer freundlichen, sanften
Art, eine weitere Eigenschaft, die eine längere Beziehung in Alex’ Augen nun doch wieder möglich macht. Unwillkürlich lächelt
er und bietet Kreitmeier geradezu überfreundlich einen Stuhl an.
»Danke«, sagt Kreitmeier und setzt sich linkisch, während Alex ihm gegenüber Platz nimmt.
»Bitte sehr. Was kann ich für Sie tun?«
»Kommen Sie vom Frühsport?«, erkundigt sich Kreitmeier, statt zu antworten, und deutet auf Alex’ verblasste Jogginghosen.
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragt Alex zurück, jetzt wieder gereizt über die frühe Störung, die seinen Tagesablauf
unterbrochen hat, ziemlich hungrig, weil er erst nach seinen Übungen zu frühstücken pflegt, und doch auch angenehm neugierig.
»Sie haben nicht zufällig einen Kaffee?«
Irgendetwas an dieser Szene erinnert Alex an einen dieser skurrilen alten Filme im Buñuel-Stil, die Juliane so gern mag, und
für die sich Alex in letzter Zeit auch etwas erwärmt hat, weil sie die Sinnlosigkeit des menschlichen Strebens nach Gütern
und Sicherheiten so eindrucksvollauf den Punkt bringt, die Illusion des Vorankommens, die sich letztlich immer in einer Kreisbewegung erschöpft. Also lehnt
er sich zurück, fixiert sein Gegenüber und sagt: »Sie können einen Früchtetee haben. Aber erst, nachdem Sie mir gesagt haben,
was Sie hier wollen.«
Statt zu antworten, zieht Kreitmeier einen blauen Notizblock aus der Innentasche seines Blazers, und urplötzlich verlieren
Ton und Habitus jede Verbindlichkeit, werden beinahe unhöflich geschäftsmäßig; möglicherweise eine dieser Einschüchterungsstrategien,
die man ebenfalls schon oft im Fernsehen gesehen hat. Und tatsächlich kommt auch die entsprechende Frage (»Wie gut kannten
Sie Paul Dahl?«), die sich anhört, als hätte Kreitmeier sie schon hundertmal gestellt, aber nie eine befriedigende Antwort
darauf bekommen.
»Wie bitte?«
»Paul Dahl«, wiederholt Kreitmeier ungeduldig, seine sonore Stimme schraubt sich eine halbe Tonlage nach oben. Nun klingt
er plötzlich viel jünger und unsicherer, und Alex atmet auf, ohne zu wissen, warum. »Er ist letzte Woche – äh – plötzlich
verstorben. Das wissen Sie doch sicher.«
»Ja, natürlich.«
»Das Problem an der Sache ist allerdings …«
»Es war kein natürlicher Tod.« Alex sagt das im Ton einer Feststellung; alles fügt sich plötzlich zusammen, Pauls ungewöhnlich
früher Tod, Alex’ Traum, in dem Paul um Hilfe ruft, dieser Polizist in seiner Küche, das Gefühl, dass alles zusammenhängt
und er nur noch nicht – oder nicht mehr – weiß, wie. In einer Welt, die ihrem Untergang entgegenrast, wird ohnehin alles denkbar,
auch die absurdesten Entwicklungen, und Alex hat sich gut darauf vorbereitet und deshalb keine Angst vor den kommenden bösen
Scherzen rachsüchtiger Geistwesen.
»Nein«, bestätigt Kreitmeier und fasst Alex nun aufmerksamer
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