Wer Schuld War
verstehen
kann, und dabei läuft es ihr kalt den Rücken herunter. Das ist er jetzt, der endgültige Abschied, der nicht hätte sein müssen,
wenn alles anders verlaufen wäre.
In der Abiturklasse hatte sie ein Techtelmechtel mit Paul und später immer wieder kurze Affären, meistens zwischen zwei Beziehungen,
wenn sie sich schlecht fühlte oder in einer Alles-egal-Stimmung war. In solchen Fällen hatte sie sich gern an Paul gewandt,
der sie zuverlässig zum Reden, zum Lachen oder ins Bett brachte, mit ihr ins Kino oder auf Partys ging, auf denen sie nicht
alleine erscheinen wollte. Und nun ist sie ganz allein, und das vielleicht für den Rest ihres Lebens, wer weiß das schon.
Zu ihrem Ärger spürt sie nun doch die Tränen kommen. Diesmal fließen sie aber nicht von selbst, im Gegenteil, diesmal sind
sie schwer wie Sirup und würgen sie im Hals.
Sie spürt Ginas Hand auf ihrem Rücken. Aus der leichten Berührung wird allmählich ein Tätscheln, aber das Schluchzen kommt
ganz tief aus dem Bauch, und es lässt sich nicht stoppen.
Später treffen sie sich in dem Lokal neben dem Friedhof. Pauls Eltern haben das organisiert, soviel Barbara weiß, wie sie
offenbar überhaupt das gesamte Procedere der Beerdigung bestimmt haben. Barbara folgt dem Toilettenschild und findet sich
in einem lang gezogenen gespenstisch stillen Raum wieder, unter einer flackernden Neonröhre, vor einer gut drei Meter langen
Barriere aus eckigenWaschbecken. Sie begutachtet sich in der Spiegelfront darüber, und stellt fest, dass ihre Augen weniger geschwollen sind,
als sie befürchtet hat. Sie zündet sich verbotenerweise eine Zigarette an, und bläst den Rauch auf ihr verschwimmendes Spiegelbild,
lehnt sich an die weiß gekachelte Wand und raucht weiter, bis ihr Rücken so kalt wie die Fliesen ist, tritt dann die Zigarette
aus und geht zurück in den Gastraum mit der niedrigen Decke, der nach Bier und fleischlastiger Küche riecht.
Pauls Freunde sitzen alle an einem Tisch. Links davon haben Pauls Eltern an einem kleineren Tisch Platz genommen, nicht allein,
sondern mit zwei weiteren Paaren in ihrem Alter, sodass man sich Gott sei Dank um sie nicht kümmern muss, und so will sich
Barbara gerade erleichtert neben Alex quetschen, als sie Pilar entdeckt, Pauls Exfreundin, die gerade ihren Mantel vom Kleiderständer
neben dem Eingang nimmt. Barbara geht zu ihr hin. »Du gehst schon?«, fragt sie, und Pilar lächelt sie an, als hätte sie sie
erwartet, aber man sieht sofort, dass sie geweint hat und es sicher wieder tun wird. Dann gleitet ihr Blick an Barbara vorbei,
rechts hinter sie. Barbara dreht sich um.
In einer Ecke neben der Bar lehnt ein blonder Mann, den sie nicht kennt.
Sie hört Pilars Stimme und wendet sich ihr wieder zu. »Ich muss in die Schule, ich habe Hausaufgabenaufsicht«, sagt Pilar
mit ihrer schönen dunklen Stimme und mustert Barbara dabei mit einer für sie typischen Dringlichkeit, so, als gebe es ungeheuer
wichtige Fragen bezüglich Barbaras Person, die sie jetzt nicht stellen kann, aber die sie dauernd beschäftigen.
»Kann dich niemand vertreten?«, fragt Barbara, denn sie hätte gern mit Pilar geredet, egal über welches Thema, aber Pilar
antwortet »Nein, leider nicht«, und das so entschieden, dass Barbara klar wird, dass Pilar gar nicht bleiben
will
, dass Pauls Freunde, intensiver Blick hin oder her, letztlich uninteressant für sie sind.
Und so versucht sie, wenigstens dieses letzte Tür-und-Angel-Gespräch etwas in die Länge zu ziehen.
»Paul war ein Idiot, dass er dich hat gehen lassen«, sagt sie, was definitiv die falsche Äußerung ist, denn sie treibt Pilar
die Tränen in die Augen und damit aus dem Lokal, zuvor nimmt Pilar sie jedoch noch fest in die Arme und verspricht ihr flüsternd,
sie anzurufen.
»Bitte tu das wirklich.«
»Ganz bestimmt.«
Dann verschwindet sie in einem Schwall frischer Luft, und Barbara setzt sich neben Alex, lächelt Gina zu, die ihr schräg gegenüber
sitzt, zwischen zwei Jungs aus Pauls ehemaliger Band, die es vor einem guten Jahrzehnt zu kurzem lokalem Ruhm gebracht und
sich anschließend total zerstritten haben, und registriert, dass vor Gina ein bereits halb leeres Glas steht, mit einer klaren
Flüssigkeit, die wahrscheinlich nur aussieht wie Wasser.
»Wie geht’s dir?«, fragt Alex von der Seite, und sie nimmt ihren Blick von Gina, denn Gina muss selbst wissen, was für sie
gut ist.
»Ja. Danke.«
»Du
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