Wer sich nicht wehrt...
und mit Hilfe von Neuronen-Modellen simuliert, wie die Reaktionen eines Gehirns auf bestimmte toxische Einflüsse sind. Es ist die große Trägheit, die noch immer Millionen Versuchstiere kostet.« Sänfter nickte mehrmals. »Sie sehen mich mit großen Augen an, Herr Tenndorf. Jawohl, auch ich gehörte zu dem Heer der so fabelhaft eingespielten Forschermediziner. Aber seit der vergangenen Nacht …«
Sänfter griff in die Manteltasche und zog ein paar eng beschriebene Blätter hervor. Dann schob er seine goldeingefaßte Brille näher an die Augen und blickte zu Tenndorf hinauf. »Langweile ich Sie?« fragte er.
»Ganz im Gegenteil. Es ist äußerst selten, daß man eine Wandlung vom Saulus zum Paulus erlebt …«
»Ich habe in dieser Nacht viel gelesen und gelernt, und ich bin erschrocken, wie wenig man doch weiß. Kennen Sie den Philosophen Robert Spaemann aus München? Er schreibt in einem Aufsatz ›Tiere sind empfindsame Wesen‹ unter anderem: ›Von kompetenten Ärzten ist in letzter Zeit der Nutzen von 95 Prozent aller Tierversuche bestritten worden. Ja, es wird sogar mit guten Gründen ihre Schädlichkeit für den Menschen behauptet. Die Conterganschäden jedenfalls wären nicht aufgetreten, wenn man sich nicht auf die Ergebnisse der Tierversuche verlassen hätte. Übrigens hängt auch die Kostenexplosion des Gesundheitswesens u.a. mit diesen Versuchen zusammen. Die Tierversuche sind längst zum Selbstzweck geworden, deren Sinn gar nicht mehr ernsthaft geprüft wird. Es genügt, daß nur irgendein noch so absurdes sogenanntes Forschungsinteresse befriedigt wird.‹«
»Das ist in der Tat hart, Herr Professor. Aber vielfach auch wahr!«
»Wer bestreitet das? Ich nicht mehr! Doch hören Sie weiter: ›Auch die Menschenexperimente in den Konzentrationslagern sollten angeblich wohltätigen medizinischen Zwecken dienen. Ich sage nicht, daß das eine so schlimm wie das andere ist. Ich sage nur, daß beides schlimm ist und daß hinter beidem dasselbe verwerfliche Prinzip steht, daß der Zweck jedes Mittel heiligt …‹«
»Das ist allerdings ein starkes Stück!« sagte Tenndorf gepreßt. »Dieser Vergleich gefällt mir nicht …«
»Hören Sie weiter, was Spaemann schreibt, und Sie werden es verstehen: ›Auf dem Weg in die Gaskammern Psalmen singen – das kann kein Tier. Es ist der dumpfen Angst sprachlos ausgeliefert, und seine Angst ist fast immer Todesangst. Die Gemeinschaft der fühlenden Wesen geht über die Grenzen der menschlichen Art hinaus, und wir haben nicht das Recht, andere fühlende Wesen einem Leben auszuliefern, das nur aus Qualen und aus Angst vor dem Tode besteht. Es ist dies nicht eine Frage des Mitleids. Wir haben nicht das Recht!‹ Aber Spaemann sagt noch mehr in seinem Aufsatz, den leider die wenigsten kennen: ›Lassen wir uns bei solchen Erörterungen nicht durch kasuistische Extrembeispiele einschüchtern, schreckliche Beispiele von unerträglichen menschlichen Leiden – und dann die Frage, ob man das zulassen oder doch nicht lieber ein Tier leiden lassen soll …‹«
»Vor ein paar Tagen fragte mich ein Professor Sänfter noch, was wichtiger sei: die bis heute noch ohne Hilfe dastehenden AIDS-Kranken oder die Tiere, mit deren Opfer man – vielleicht – das Virus bekämpfen könnte …«, sagte Tenndorf ernst.
Sänfter nickte wieder. »Das war die Logik des Forschers. Tausende Forscher werden so denken. Aber Spaemann sieht das anders. Er argumentiert: ›Vorderhand dienen solche Argumente nur der Einschüchterung. Ein von jeder Kontrolle abgeschirmter, in sich selbst rotierender und nach Parkinsons Prinzip sich ständig ausweitender Betrieb der Folterung von Millionen von Tieren, ein Betrieb, der längst von allen einsehbaren Zwecken abgekoppelt ist, soll gegen Einwände immunisiert werden.‹ Das hat mich, Herr Tenndorf, wirklich erschreckt. Erschreckt, weil hier die Wahrheit so simpel dargestellt ist.«
»Das sind goldene Worte, Herr Professor.« Tenndorf suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Als er keine fand, hielt Sänfter ihm sein ledernes Zigarrenetui hin.
»Eine Havanna am frühen Morgen? Ob ich das überlebe?«
»Sie haben ja einen Arzt in der Nähe.«
Ein müder Scherz, man verzog auch nur die Lippen zu einem Lächeln.
»Goldene Worte«, wiederholte Tenndorf, als er die Zigarre angesteckt hatte. »Aber wen erreichen sie? Wer kümmert sich darum? Professor Spaemann mag ein bedeutender Philosoph sein …«
»Ordinarius in München auf dem Lehrstuhl
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