Wer sich nicht wehrt...
»Schularbeiten fertig?«
»Ganz fertig, Papi.« Wiga schielte nach links hinunter. Micky saß, das Halsband umgelegt, neben ihr und sah mit ihren grünen Augen zu Tenndorf hinauf. »Darf ich mit Micky in die Große Heide gehen?«
»Jetzt noch?« Tenndorf sah auf seine Armbanduhr. »Es ist schon halb vier. Um fünf ist es dunkel …«
»Nur eine Stunde, Papi. Michael sagt, in der Heide hätte er Schneehasen gesehen, die will er mir zeigen …«
»Quatsch! Hier gibt es keine Schneehasen.« Tenndorf blickte auf seine Zeichnung. Anders als viele Architekten war er gut im Geschäft, baute eine Siedlung und hatte die Aufträge für zwei exklusive Villen bekommen. Seitdem er für den Vorstandsvorsitzenden einer großen Firma ein komfortables Landhaus bei Langenhagen gebaut hatte, war sein Name bei potenten Bauherrn bekannt geworden. In seinem Architekturbüro beschäftigte er sechs Zeichner. Aber die besonderen Ideen für seine Bauten entwickelte er, wie früher, immer zu Hause an seinem Reißbrett im ›Studio‹, wie er den Raum nannte. »Was sagt denn Michaels Mama?«
»Er darf. Pumpi kommt auch mit.«
»Also gut. Eine Stunde! Und zieh dich warm an, Wiga.«
»Danke, Papi …«
Sie lief hinaus, gefolgt von Micky, zog ihren mit Schafsfell gefütterten Anorak über, riß die Strickmütze vom Haken und klinkte die Leine in Mickys Halsband.
Auf der Straße wartete schon Mike mit Pumpi. »Was ist denn los?« murrte er. Michael war ein schlaksiger Junge mit braunem, ins Rötliche schimmerndem Haar, etwas größer als Wiga und galt in der Schule als Sportskanone. Er gewann jeden Leichtathletikkampf seines Jahrgangs und träumte davon, einmal Olympiasieger zu werden. »Ich steh' hier schon zehn Minuten …«
»Mein Vater …« Wiga machte eine ärgerliche Handbewegung. »Eine Stunde darf ich.«
»Das ist aber kurz.« Mike zog Pumpi von Micky weg. »Mist, daß wir nicht mit dem Rad fahren können …«
Die Große Heide ist ein Waldgebiet und, wie der Name schon sagt, mit Heide durchsetztes Gelände in Bothfeld, einem Außenbezirk von Hannover. Im Sommer nehmen hier zahllose Ausflügler ihr Sonnenbad, im Winter wird gerodelt, und Langläufer üben hier für zukünftige Loipen. Auch an diesem sonnigen Tag war die Große Heide belebt bis auf ein kleines Gebiet, in dem man weder rodeln noch skifahren kann, weil ineinanderverfilzte Büsche und Unterholz keinen Raum dafür lassen. Hier hatte Mike seinen Schneehasen beobachtet. Eine schmale Straße zog sich bis zu den Parkplätzen auf beiden Seiten der Autobahn, kaum befahren, weil die Straße nur freigegeben war für Forstfahrzeuge.
»Hier!« sagte Mike, blieb stehen und machte Pumpi von der Leine los. Auch Wiga bückte sich und löste den Haken von Mickys Halsband. »Wir gehen jetzt zwischen die Büsche und warten. Wir dürfen uns nicht bewegen und keinen Ton sagen … kannst du das?«
»Bist du dämlich!« Wiga sah Mike strafend an. »Ich kann alles, wenn ich will …«
Auf Zehenspitzen schlichen sie in das Buschwerk und hockten sich an einem Baumstamm hin. Micky und Pumpi spielten miteinander, jagten hin und her und wirbelten dabei kleine Schneewolken auf.
Drüben, auf der schmalen Straße, hielt ein Lieferwagen. Der Aufbau war weiß lackiert und mit großen Buchstaben bemalt. ›Möbeltransport Rapid‹, las Mike, dachte aber nicht weiter darüber nach, was ein Möbeltransporter mitten in der Großen Heide zu tun haben könnte.
Pumpi blieb plötzlich stehen, hob die Nase und schnupperte. Seine Nasenlöcher blähten sich, der Schwanz begann heftig zu wedeln. Ein paarmal sah der Hund zurück auf die Buschgruppe, wo Mike verschwunden war, dann setzte er sich zögernd in Bewegung, immer wieder schnüffelnd, und trabte durch den tiefen Schnee hinüber zu dem Lieferwagen. Micky folgte ihm brav. Wo ihr Freund Pumpi hinging, da ging sie mit.
Eine unerklärliche Unruhe überfiel Mike plötzlich. Er erhob sich aus der Hocke, ging zurück ins Freie und sah, wie Pumpi dem weißen Wagen zustrebte.
»Hierher!« rief Mike. »Pumpi! Bei Fuß! Kommst du her? Pumpi! Bei Fuß!« Als das Rufen nichts nutzte, pfiff er auf den Fingern … ein Pfiff, dem Pumpi sonst unbedingt folgte. Aber dieses Mal gehorchte er nicht. Er drehte nicht einmal den Kopf herum. Und Micky schnürte wie eine Raubkatze hinter ihm her durch den tiefen Schnee.
»Ruf du deine Micky!« sagte Mike und stieß Wiga an, die jetzt neben ihm stand. »Der kann was erleben! Läuft einfach weiter …«
Wiga hob die
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