Wer wir sind
endgültig zugrunde geht.«
Und Kapitän Ehrhardts Organisation Consul erschießt solche Leute, auf offenem Feld. Harro ist beindruckt. Der Vater erklärt ihm den Unterschied zwischen guter und schlechter Gewalt: Schlechte Gewalt ist es, wenn die Tat selbstischen Zwecken dient. Gut und gerechtfertigt ist die Gewalt, wenn sie im Dienste höherer Ideale ausgeübt wird, weil man zum Beispiel das Vaterland retten muss.
Harro und der Vater sitzen im Wohnzimmer und debattieren. Die Mutter sieht in der Küche nach dem Rechten, das Baby Hartmut schreit, die kleine Helga wickelt ihre Puppen. Harro und der Vater diskutieren in männlicher Verbundenheit. Sie reden von Dingen, die die Mutter, die Schwester Helga, das Baby Hartmut niemals begreifen können. Sie erregen sich gemeinschaftlich über Professor Delbrück, die Franzosen, die Belgier, die Engländer, die Amerikaner, das Parteiensystem, die Republik, es ist wunderschön. Harro und der Vater reden von kämpferischen Dingen. Sie reden über die Köpfeder anderen Familienmitglieder hinweg, sie begeistern sich gemeinsam: Die Schulzes sind 1922 gerade noch rechtzeitig nach Duisburg umgezogen, um den Beginn des Ruhrkampfs zu erleben, alle Deutschen verbrüdern sich nun.
Alle politischen Konflikte, sozialen Unterschiede, Fragen der Klassenzugehörigkeit sind hinweggefegt. Telefon heißt ab sofort Fernsprecher, Trottoir Gehweg, automatisch selbsttätig, ein Kasino ist ein Werksgasthaus. Harro ist dreizehn, dann vierzehn. Die deutsche Welle, die alles Trennende wegspült, reißt ihn mit sich und trägt ihn empor. Er entwischt seiner Mutter, marschiert in einer Kundgebung mit und wird prompt verhaftet.
»Also, mein Sohn. Dann erkläre mir mal, warum du deine Mutter so in Angst und Sorge versetzt hast.«
Aber der Vater kann seinen Stolz nicht verhehlen. Der Korvettenkapitän Erich Edgar Schulze, Neffe des Großadmirals Alfred von Tirpitz: Er kann es beim besten Willen nicht tadelnswert finden, dass sein Junge sich für das Vaterland einsetzt.
Auch Arvid Harnack ist zum Einsatz bereit.
Als kaum Achtzehnjähriger hat er sich einem Studentenbataillon der Freikorps angeschlossen und ist in den Kampf gezogen, um die Provinz Oberschlesien für das Reich zu erhalten. Die Oberschlesier hatten sich schließlich in einer ordentlichen Abstimmung für ihre Zugehörigkeit zum Reich entschieden. Aber die Siegermächte haben die Resultate der Wahl nicht umgesetzt. Solch offenbare Ungerechtigkeit der Machthaber ist schwer zu dulden. Arvid ist zum Kämpfen entschlossen. Er wird nicht beiseitestehen in dieser wilden Zeit, in der alles brodelt und kämpft, zueinander drängt, miteinander ringt. Die Freikorpsler sind allerdings nicht Arvids Fall.
Sie haben Arvid ziemlich erschüttert. Arvid sieht ein, dass es nicht immer ohne Gewalt abgeht. Aber ist es per se ein Zeichen jugendlicher Lebensfreude, wenn man zu fünft einem Einzelnen aufs Maul haut, wie die Kerls in den Korps sich auszudrücken belieben? Dies ist denn doch nicht Arvids Schlachtfeld. Arvid wird nun studieren und Universitätsprofessor werden. Er wird aus einer anderen Position heraus kämpfen. Anders geht es ja auch gar nicht. Arvids Vater war ebenso Universitätsprofessor wie Arvids Onkel Adolf Harnack und wie Hans Delbrück, der sozusagen sein Onkel ehrenhalber ist. Arvid studiert nun also Jura. Die Familie ist erleichtert. Aber schon ein paar Monate später lässt Arvid alles stehen und liegen und reist ins neugegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.
Er reist auf den Spuren von Stjepan Radić, dem Vorsitzenden der Kroatischen Bauernpartei. Radić tritt für ein unabhängiges Kroatien ein und für die Rechte der Bauern. Er beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es der amerikanische Präsident Woodrow Wilson proklamiert hat, er kämpft gegen die Unterdrückung der kroatischen Landbevölkerung durch die Serben, die im neugegründeten Königreich das Sagen haben wie die Siegermächte in Deutschland.
Arvid bewundert Radić. Der Mann stammt aus allereinfachsten Verhältnissen. Er ist stark kurzsichtig, aber er hat es geschafft, die Schule zu besuchen. Er hat sich durchgeschlagen, er ist ein Kämpfer und ein Demokrat. Man kann von ihm lernen. Arvid lässt sich auf einem Floß die Drau hinuntertreiben. Er wird verhaftet, weil man ihn für einen ungarischen Spion hält. Er entkommt, fährt durch Rumänien und Bulgarien, gelangt mit Waffenschmugglern über das Schwarze Meer in die Türkei und
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