Wer wir sind
es doch etwas, dass Mildred Fish dieselben Initialen hat wie Margaret Fuller?
Margaret hat für Horace Greeleys ›New York Tribune‹ über Kunst, Kultur und Literatur geschrieben, und 1846 ist sie nach Europa gereist, als erste weibliche Auslandskorrespondentin einer amerikanischen Zeitung. Es war alles sehr abenteuerlich und romantisch. Denn in Italien hat Margaret sich in den jungen italienischen Revolutionär Marchese Giovanni Angelo d’Ossoli verliebt. Sie hat Seite an Seite mit ihm für die Republik gekämpft, und er hat eisern zu ihr gestanden, auch als sie schwanger wurde und seine Familie drohte, ihn zu enterben. Nachdem die italienische Revolution gescheitert war, war er sogar bereit, mit Margaret und dem Kind nach Amerika auszuwandern.
Im Mai 1850 traten sie die Reise an. Aber an Bord des Schiffs brachen die Pocken aus. Der Kapitän erlag der furchtbaren Krankheit, und als vor Fire Island ein Sturm aufkam, lief das führerlose Schiff auf Grund.
Margaret, der Marchese und ihr kleiner Sohn ertranken, in Sichtweite der amerikanischen Küste. Tagelang wanderte der Philosoph Henry David Thoreau am Strand zwischen den angespülten Trümmern umher, auf der Suche nach Margarets Manuskript über die italienische Revolution. Er fuhr sogar mit einem Boot an den Ort des Unglücks und versuchte, auf das Wrack zu gelangen. Vergebens. Margarets letztes Werk hat die See behalten, ebenso wie ihre sterblichen Überreste.
»Mir ist langweilig«, sagt Grace.
Sie stellt ihr leeres Limonadenglas auf den Boden neben die Bank im Carlsruh-Garten. Sie gähnt, sie streckt sich.
»Wollen wir Rollschuh fahren?«
»Gern«, sagt Mildred. »Ich habe meine Rollschuhe vorn am Tor liegen lassen.«
Die Mädchen gehen miteinander über den Rasen. Sie sindfünfzehn Jahre alt. Sie gehen Arm in Arm, sie lachen. Sie spielen ein Spiel, einem alten Kinderreim folgend,
Two little hands go clap, clap, clap,
Two little feet go tap, tap, tap.
Sie werden für immer zusammenbleiben, das haben sie einander versprochen. Sie werden niemals heiraten, sondern zusammen in einem kleinen Haus an einem grünen Flussufer leben, mit Katzen und Kanarienvögeln und englischen Rosen im Garten. Tagsüber werden sie dichten und singen. Und abends werden sie ihre Freunde empfangen: Dichter, Philosophen und Künstler, die wie Mildred und Grace nach dem Edlen, Echten, Einfachen streben, es wird sein wie am Hofe von König Artus. Mildred weiß nur noch nicht, ob sie Guinevere oder Galahad sein wird. Und gleich werden sie das Tor erreicht haben.
Sie werden auf die Straße hinaustreten. Sie werden ihre Rollschuhe anschnallen, und dann geht die Fahrt los. Dann geht es den Hügel hinunter, auf die Küste zu, schnell und schneller unter Rufen und Gelächter denen entgegen, die in der Ferne auf sie warten,
Two little legs kick high, high, high,
Two little arms wave bye, bye, bye.
Arvid Harnack ist in Berlin, zu Besuch bei Tante Amalie und Onkel Adolf. Adolf von Harnack ist 1914 für seine Verdienste vom Kaiser geadelt worden. Es war dasselbe Jahr, in dem Arvids Vater gestorben ist. Am 27. Februar ist Otto Harnack aus dem Haus gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Erst nach mehr als drei Wochen hat man ihn gefunden, im Schilf am Flussufer strudelnd, der schwere Körper leicht im eisigen Schmelzwasser des Neckar. Während der Wochen des Wartens hat seine Frau Clara jeden Tag daran denken müssen,dass sie am Sonntag davor nicht mit ihm in die Mozartmatinee gegangen ist.
Sie war mit einem Modell verabredet, in ihrem schönen stillen Atelier, weitab der Kinder, der Familie, des alltäglichen Lärms, geborgen zwischen Farbtuben und Pinseln, im sauberen Geruch von Leinöl und Terpentin. Sie freute sich sehnsüchtig auf diesen Termin. Otto war natürlich voller Verständnis. Er war immer voller Verständnis, wenn jemand der Welt entfliehen wollte.
»Geh du nur malen«, hat er gesagt. »Geh du ruhig malen, wenn du es so gern möchtest.«
Dann ging er ins Konzert, allein. Und Clara hat ihn gehen lassen. Aber hätte sie ihn zurückhalten können? War ihr ein Mittel gegeben, um ihn zu retten, den Literaturprofessor und Goethe-Forscher Otto Harnack? Clara glaubt es nicht. Die tiefe, schauervolle Nacht hatte ihn überkommen. Das schäumende Meer hat ihn mit sich fortgerissen. Und natürlich ist er nicht absichtlich an jenes Ufer, an genau jene Stelle gegangen, an der er nicht mehr weiterkonnte. Aber einmal dort angelangt, sah er keine Möglichkeit mehr. Es gab kein Boot,
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