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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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kehrt von dort schließlich einigermaßen heil wieder nach Hause zurück. Was ihm von dieser Reise bleibt,ist die Erinnerung an Momente starker Gefühle, Augenblicke staunender Selbstvergessenheit.
    Zwischen diesen Momenten hat er sich oft gelangweilt. Landschaft zog vorüber, flüchtige Begegnungen ereigneten sich, während Arvid vorandrängte, getrieben von einer starken Unruhe, auf ein Ziel zu, das sich ihm entzog, je länger und weiter er reiste, die Frage ist doch, warum die Welt ist, wie sie ist. Warum ist alles so ungerecht verteilt: Besitz, Glück, Gesundheit, Reichtum, Bildung? Wie kann man die Lage verbessern, wie kann man für Gerechtigkeit sorgen? Wie sollte Deutschland aussehen, wie könnte Arvid seinem Land aufhelfen? Arvid ist zu dem Schluss gelangt, dass alles letztlich eine Frage der Ökonomie ist.
    Er hat beschlossen, dass er die Juristerei nun zügig zu Ende bringen und dann Nationalökonomie studieren wird. Er wird sich eine breite Grundlage schaffen. Und dann muss er eine Position erringen. Nur aus einer Position heraus kann man etwas bewirken.
    Mit dreiundzwanzig wird Arvid Harnack zum Dr. jur. promoviert. Für ein Gastsemester geht er an die London School of Economics. Danach empfiehlt Onkel Adolf den Neffen an Professor Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, der das Hamburger Institut für Auswärtige Politik leitet. Der Professor ist von dem jungen Wissenschaftler recht angetan. Zusammen mit dem Präsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft setzt er sich dafür ein, dass Arvid Harnack ein Rockefeller-Stipendium erhält und zwei Jahre lang an der University of Wisconsin in Madison studieren kann: Und so also treffen Mildred und Arvid einander.
    Arvids Weg zu Mildred führt über Schlesien, Polen, Jugoslawien, Rumänien, die Türkei und England nach Bremerhaven,über den Atlantik nach New York, auf Schienen an die tausend Meilen weit nach Westen, wo er sich an einem Frühsommermorgen im Jahre 1926 auf dem Campus der University of Wisconsin verläuft und schließlich in den falschen Seminarraum stolpert, in dem nicht Professor Commons, sondern die Literaturwissenschaftlerin Mildred Fish am Pult steht und als Assistentin von Professor Laird Studienanfänger in Homer einführt,
    Leise redete mancher, und sprach die geflügelten Worte:
    Tadelt nicht die Troer und hellumschienten Achaier,
    Die um ein solches Weib so lang’ ausharren im Elend –
    Da steht Mildred, groß und schlank, das strahlend blonde Haar altmodisch und romantisch aufgesteckt, in einem fadenscheinigen Kleid ihrer Schwester Harriette, das sie trägt wie ein Königinnengewand. Arvid bleibt. Nach der Stunde spricht er Mildred an. Er entschuldigt sich für die Störung. Er beruft sich auf mangelnde Ortskenntnis. Er ist nervös, er sucht nach Worten, er bedauert sein schlechtes Englisch. Sie bedauert lachend ihr schlechtes Deutsch.
    »Wir könnten vielleicht zusammen lernen«, sagt er. »Wir könnten einander unsere Sprachen beibringen, Sie mir die Ihre und ich Ihnen die meine.«
    Es beginnt also damit, dass sie einander zu verstehen trachten. Dass sie bereit sind, die Vokabeln des anderen zu lernen, die Konstruktionen seiner Sätze zu begreifen, sie setzen nicht selbstverständlich voraus, dass sie mit denselben Worten immer auch dasselbe meinen. Sie müssen nachfragen, sich vergewissern.
    Sie meinen also?
    Habe ich richtig verstanden, dass?
    Arvid versteht am Anfang meist falsch. Er ist zu förmlich, er ist zu steif. Er kann sich nicht daran gewöhnen, dass amerikanischeProfessoren ihre Studenten beinahe wie Gleichrangige behandeln. Er hat es nie erlebt, dass ein Professor ständig für seine Studenten erreichbar ist, dass er sich mit ihnen am Abend trifft, wie es John R. Commons mit der verschworenen Gemeinschaft seiner Friday Nighters tut, der Professor für politische Ökonomie und Soziologie gilt als der glanzvollste Geist der Universität.
    Er versucht, christliche Ideale mit den Erkenntnissen der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften zu vereinen. Er entwickelt Konzepte für eine staatliche Arbeitslosenversicherung, für eine Arbeiterunfallversicherung. Er berät den Gouverneur von Wisconsin, er arbeitet mit Regierungsmitgliedern und mit Gewerkschaftern zusammen: Wirtschaftliche Gegebenheiten können nicht isoliert verstanden werden, sondern nur zusammen mit der sozialen und politischen Wirklichkeit, in die sie eingebettet sind. Die Menschen verfolgen unterschiedliche wirtschaftliche Interessen. Aber sie sind

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