Werbevoodoo
1. Praktikantenlos
Den ganzen Morgen über waren ihm Frauen aufgefallen, die Tränen in den Augen hatten. In der S-Bahn hatte ihn eine junge Frau angesehen, als wäre ihr die Katze entlaufen. Eine andere, als wäre sie am Frühstückstisch, nachdem der Tee getrunken und das Croissant verspeist war, verlassen worden. Einfach so, ohne Vorwarnung.
Stumme, ratlose Mienen, die ihn noch verfolgten, als er längst die Morgensonne im Gesicht hatte. Oder bildete er sich das nur ein? Waren die Frauen gar nicht traurig? Sondern einfach nur müde? Und die Tränen? Vielleicht hatte ihnen der Schnellzug nach Garmisch Staub ins Auge geweht, als sie am Bahnsteig warteten?
Den Weg vom Bahnhof bis zum Büro legte er neuerdings zu Fuß zurück, zweimal war ihm sein Fahrrad gestohlen worden, das war der Preis für das antizyklische Arbeiten. Denn während sich halb Starnberg jeden Morgen auf den Weg Richtung München begab, machte Timo es andersrum. Er arbeitete auf dem Land. Starnberger würden ihr pralles, vor Wohlstand glühendes Millionärsdorf, niemals als Land bezeichnen. Aber ein Münchener durfte das.
Sogar hier, an den Schmutzrändern, im Gewerbegebiet, wo man sonst gern ein wenig schwarz unter den Fingernägeln trägt, war Starnberg herausgeputzt. Jede Firma, die etwas auf sich hielt, hatte einen gepflegten Vorgarten, selbst der Schrottplatz sah aus wie ein Künstlerhof. Neue Besen überall, glatter Asphalt ohne sichtbare Ausbesserungslöcher und wenn die Arbeiter des Gartenamtes morgens in ihre Arbeitshandschuhe schlüpften, stellte sich der oberflächliche Beobachter unwillkürlich die Frage, ob diese Handschuhe wohl von Hermès gefertigt würden. Dort gibt’s bekanntlich eine vortreffliche Gartenkollektion.
Sein Fahrrad hatte in der Nacht immer am S-Bahnhof Starnberg Nord gestanden, und war für die Nachtschwärmer, die um Viertel vor sechs mit dem ersten Morgenzug aus München kamen, eine unwiderstehliche Beute gewesen. Zuerst wurde das eine geknackt, dann war auch sein zweites Rad verschwunden. Timo war nicht wirklich böse darüber. Fast war er froh über die Möglichkeit, ein bisschen mehr Zeit zwischen S-Bahn und Arbeitsplatz zu haben. Doch auf dem Kilometer in der Morgensonne wollten diese trauernden Gesichter auch nicht verschwinden. Was war das für ein Tag? Ein prachtvoller Sommertag. Keine Anzeichen einer Katastrophe. Warum hatten die Frauen ihn so flehend angesehen? Was sahen sie in ihm? Einen Schuldigen? Einen Beschützer? Einen Beteiligten? Einen ebenso Verzweifelten? Einen Retter? Er fühlte sich immer irgendwie beteiligt.
Für einen 24-Jährigen machte sich Timo verdammt viele Gedanken über die Befindlichkeiten anderer Leute.
Aber vielleicht lag es ja an Selena. Sie war die Erste gewesen, die ihn heute so traurig angesehen hatte. Sie wollte ihm nicht sagen, wieso. Na ja, wie Frauen manchmal sind.
Er hatte die 29 Minuten Zugfahrt gut genutzt, Timo war zufrieden mit den drei Tränenporträts. Er wusste noch nicht genau, in welche Geschichte er sie einbauen wollte, und welche Rollen sie darin spielen sollten, eines war jedoch klar: Dass die schwarzhaarige Frau, die den Blick fest zu Boden auf eine Wasserpfütze gerichtet hatte, als wäre diese Pfütze ein Fenster in tiefer liegende Räume und als würde sie durch den Spiegel hindurch einem dunklen Wesen direkt ins Auge blicken, eine eigene Story bekommen würde.
Was heißt Story. Einen kleinen Comic. Der fotokopiert an ein paar Kunststudenten und Professoren verteilt, von Comic-Zeitschriften regelmäßig abgelehnt und vom Rest der Welt nicht mal ignoriert wurde. So sah’s aus.
Dann war er angekommen und öffnete die Tür zu SCP, einer Villa am See.
S für Schneidervater, C für Creative und P für Partner.
Das war ein wenig einfallsreicher Euphemismus für ein Beteiligungsmodell, das die leitenden Mitarbeiter davon abhielt, ihre eigene Werbeagentur zu gründen und trotzdem das ganze Kapital beim alten Schneidervater konzentrierte. So hatte es ihm zumindest sein Kumpel Flo erklärt, der täglich das Handelsblatt komplett durchlas und wöchentlich Timo klar zu machen versuchte, warum man mit Werbung kein Geld mehr verdienen könne. Timo fand nichts langweiliger als Wirtschaftsteile von Zeitungen, deshalb war ihm das Partnermodell der Agentur vollkommen gleichgültig.
Timo war der vermutlich beste Gestalter der Welt. Grafik-Designer, Comic-Zeichner, Illustrator, Foto-Künstler, Photoshop-Artist, in allen diesen Disziplinen
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