Werke
verdient die Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten, als die Auflösung, gänzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben.«
Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umständen nach Gutdünken verfahren. Er durfte, z. E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr Unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben müßten, noch in ihrer Kindheit gewesen wären. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel älter, als sich die Söhne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafür verifizieren wollte!
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Zwei und dreißigstes Stück
Den 18ten August, 1767
Mit den Beispielen der Alten hätte Corneille noch weiter zurück gehen können. Viele stellen sich vor, daß die Tragödie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens großer und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; daß ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fußtapfen der Geschichte zu treten, und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis ließ sich um die historische Richtigkeit ganz unbekümmert. (16) Es ist wahr, er zog sich darüber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, daß Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so läßt sich den Folgerungen, die man aus seiner Mißbilligung ziehen könnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht würdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich, noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nützlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu führen, leicht von übeln Folgen sein könnte.
Ich fürchte sehr, Solon dürfte auch die Erdichtungen des großen Corneille nichts als leidige Lügen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit überladet, das geringste wahrscheinlicher? Sie sind nicht einmal für sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er hätte doch wohl wissen sollen, daß nicht das bloße Erdichten, sondern das zweckmäßige Erdichten, einen schöpfrischen Geist beweise.
Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Söhne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragödie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieses ist eben so gräßlich als außerordentlich. Es gibt höchstens drei Szenen, und da es von allen nähern Umständen entblößt ist, drei unwahrscheinliche Szenen. – Was tut also der Poet?
So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kürze der größere Mangel seines Stückes scheinen.
Ist er in dem erstern Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen. Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts dabei
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