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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahin reißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahin reißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben. – Und schlägt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, daß er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kürze seiner Fabel verschwunden; es bekümmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfällen fünf Akte füllen wolle; ihm ist nur bange, daß fünf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergrößert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen, und sie zu entwickeln verstehet.
    Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstößig sein, daß er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern dürfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug häufen zu können glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den außerordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Freveltaten, nehmen zu müssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Cleopatra, eine Mörderin ihres Gemahls und ihrer Söhne, aufgejagt, so sieht er, um eine Tragödie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Lücken zwischen beiden Verbrechen auszufüllen, und sie mit Dingen auszufüllen, die wenigstens eben so befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen, und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammen geknetet hat, als sich nur immer Häcksel und Mehl zusammen kneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, läßt erzählen und erzählen, läßt rasen und reimen, – und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankömmt, ist das Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel, – wird gedruckt und aufgeführt, – gelesen und angesehen, – bewundert oder ausgepfiffen, – beibehalten oder vergessen, – so wie es das liebe Glück will. Denn et habent sua fata libelli.
    Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen? – Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine Rodogune, nun länger als hundert Jahr, als das größte Meisterstück des größten tragischen Dichters, von ganz Frankreich, und gelegentlich mit von ganz Europa, bewundert worden. Kann eine hundertjährige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen, und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen?
    O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die französischen Poeten; diesem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechszehnten Seculi voll, und er fand an der Rodogune gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war, und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlaßnen Enkelin dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie hübsche Verse machen, sammelte Almosen für sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen großen einträglichen Kommentar über die Werke ihres Großvaters u.s.w.) aber gleichwohl erklärte

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