Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
jetzt zuhören, mein kleiner Engel ... Nein, Nastenka, was kann ihm, dem wollüstigen Faulenzer, das Leben bedeuten, nach dem wir uns beide so sehnen? Er ist überzeugt, daß dieses Leben armselig und blaß ist, und er ahnt gar nicht, daß auch ihm einmal die traurige Stunde schlägt, wo er für einen einzigen Tag dieses armseligen Lebens alle seine phantastischen Jahre hingeben würde; und nicht einmal für irgendeinen ausgewählt glücklichen Tag: denn er wird in jener Stunde der Trauer, Reue und Wehmut nicht einmal wählen wollen. Doch solange ihm diese drohende Stunde noch nicht geschlagen hat, wünscht er sich nichts, denn er ist über alle Wünsche erhaben, denn er besitzt alles, ist übersättigt, ist selbst der Gestalter seines Lebens, das er sich jeden Augenblick nach einer neuen Laune neu schafft. Und wie leicht, wie natürlich entsteht so eine märchenhaft phantastische Welt! Als ob sie greifbar und nicht gespenstisch wäre! Er ist manchmal wirklich zu glauben geneigt, daß dieses Leben nicht ein Spiel der Phantasie, nicht eine Luftspiegelung, nicht eine trügerische Einbildung, sondern etwas wirklich Seiendes, Echtes, Reales sei! Warum, sagen Sie es mir, Nastenka, warum stockt in solchen Augenblicken sein Atem? Durch welche Zauberkraft, durch welchen unerforschlichen Machtspruch beginnen plötzlich seine Pulse zu fliegen, seine Augen zu tränen und seine blassen, tränenfeuchten Wangen zu brennen, während sein ganzes Wesen von einem alles überwältigenden Lustgefühl erfüllt wird? Warum vergehen für ihn lange schlaflose Nächte wie ein Augenblick in unerschöpflicher Freude und Lust, und erst wenn die aufgehende Sonne ihren ersten rosigen Strahl in sein Fenster wirft, und sein unfreundliches Zimmer sich mit dem ungewissen, phantastischen Licht des Petersburger Morgens füllt, – warum sinkt unser Träumer erst dann ermüdet und matt auf sein Bett und schläft ein, während sein krankhaft erschütterter Geist in Wonne erstirbt und sein Herz vor süßem Schmerz vergeht? Ja, Nastenka, man kann sich leicht täuschen, die Leidenschaft, die sein Herz erfüllt, für echt, und seine körperlosen Traumbilder für lebendig und greifbar halten! Und so vollkommen ist die Täuschung! Da ist zum Beispiel in seinem Herzen die Liebe mit allen ihren grenzenlosen Wonnen und verzehrenden Qualen aufgegangen ... Sie brauchen ihn nur anzuschauen und Sie werden daran glauben! Würden Sie es, liebe Nastenka, bei diesem Anblick für möglich halten, daß er diejenige, die er in seiner rasenden Phantasie so sehr liebt, niemals gekannt hat? Hat er sie denn nur in seinen verführerischen Träumen gesehen, und war diese Leidenschaft nur ein Traum? Sind sie denn wirklich nicht Hand in Hand durch so viele Jahre nebeneinander gegangen, zu zweien, die ganze übrige Welt vergessend und die eigene Welt und das eigene Leben mit dem Leben des Freundes vereinend? War es denn nicht sie, die in der späten Stunde des Abschieds, weinend und sich in Seelenqualen verzehrend, an seiner Brust lag, ohne auf den Sturm, der unter dem düsteren Himmel raste, und auf den Wind, der die Tränentropfen von ihren schwarzen Wimpern wegtrug, zu achten? War denn das Ganze nur ein Traum: der traurige verwilderte Park mit den moosüberwucherten Wegen, auf denen sie so oft zu zweien lustwandelten, das Herz voller Hoffnung und Liebe so ›tiefer und süßer Liebe‹? Und das alte, noch vom Urgroßvater erbaute Haus, in dem sie so lange Zeit einsam und traurig an der Seite eines ewig schweigsamen, alten und mürrischen Gatten lebte, der die beiden, die so scheu wie Kinder waren und ihre Liebe furchtsam voreinander verbargen, immerwährend ängstigte? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich, wie rein und keusch war ihre Liebe und wie schlecht – das versteht sich doch von selbst, Nastenka! – wie schlecht waren die Menschen! Und, mein Gott, war es denn nicht sie, die er später, fern vom heimatlichen Gestade, unter einem fernen, südlichen, glühenden Himmel wiedergesehen, in der wunderbar ewigen Stadt, im Glanze des Balles, bei schmetternder Musik in einem strahlend erhellten Palazzo (es muß unbedingt ein Palazzo sein), auf einem von Rosen und Myrten umrankten Balkone, wo sie, nachdem sie ihn wiedererkannt, ihre Maske hastig von sich warf und mit den Worten: ›Nun bin ich frei!‹ ihm zuflog; wo sie sich mit einem Aufschrei von Wonne in die Arme fielen und in einem Augenblick alles vergaßen: ihren Kummer, die Trennung, alle Pein, das düstere Haus,
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