Wernievergibt
Oma Laverde. Die Geschichte floss so stimmig aus mir heraus, als hätte ich sie x-mal in Worte gegossen.
»Wir können nie wieder nach Abchasien fahren«, sagte Sopo leise. »Es gibt eine Reihe von Orten, die früher zu Georgien gehörten, inzwischen in der Türkei liegen. Die Grenzen wurden so oft verschoben.«
»Nein, Staatengrenzen haben nicht wirklich mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zu tun«, murmelte ich. Obwohl man sich im Westen Europas dessen nicht mehr so bewusst war. Wie oft kurvte ich über Alpenpässe nach Südtirol, einfach so, zum Spaß, ohne dass jemand meinen Pass sehen wollte. Dort ging ich italienisch essen, sprach Deutsch und zahlte mit Euros. »Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Die Deutschen fahren heute auch wieder nach Ostpreußen.«
Sopo warf mir einen melancholischen Blick zu und checkte ihr Handy. Ich dachte an Busse voller Rentner in Multifunktionskleidung und Nordic-Walking-Stöcken, die in Kaliningrad ausschwärmten und ein Urteil abgaben. Über die neue Zeit, über die Veränderung, über das Alte, das Frühere und das Bessere. Wenigstens die Rentnerbusse blieben den Georgiern erspart. Ihre Rentner waren zu arm, um zu verreisen.
Ich rieb mir die Schläfen und wiederholte zum tausendsten Mal, natürlich nur für mich, dass ich zu Vorverurteilungen neigte.
Der Weg wurde immer steiler. Ich schloss den Zipper meiner Jacke. Juliane tänzelte voran wie ein Kätzchen. Sie musste ja nur halb soviel Gewicht wie ich mit sich herumtragen.
Wir passierten ein grünes Holzhäuschen und einen Froschteich, in dem sich das Leben den zentralen Vorgängen widmete; der Weg kreuzte die Kuppe des Hügels und führte in langen Kurven wieder hinab.
»Geht’s hier zum Strand?«, fragte ich.
Sopo führte uns zu einem kleinen Holzpavillon. Ich spähte durch die Zweige. Tief unten lag das Meer. Nun war es nicht mehr grau, sondern tief blau. Lapislazuli, dachte ich. Ein Edelstein, eingefasst von einer weißen Kante aus Schaum und einer gelben aus Sand. Und kein Tourist weit und breit. Kein Reisebus, keine Surfschule, keine Eisbude, kein Ausflugsdampfer. Nur zwei verrückte Deutsche in bunten Allwetterjacken. 100 Meter weiter mähte ein Mann seinen Garten mit einer Sense. Irgendwo im Gebüsch raschelte es. Die Sträucher vibrierten, als rückten sie eilig zusammen. Ich sah mich um, weil ich dachte, einer der Welpen vom Eingangstor wäre uns gefolgt. Ein Mann in Lederjacke kam auf uns zu. Sopo begann ein Gespräch. Der Mann blickte immer wieder neugierig zu Juliane und mir. Ich betrachtete die Plastikkarte an seinem Revers. Keine lateinischen Buchstaben.
»Er arbeitet hier als Wächter«, sagte Sopo, nachdem der Typ weitergezogen war. »Im Augenblick gibt es nicht viele Besucher. Erst recht keine Ausländer.«
»Das müssen sie sich erhalten«, flüsterte Juliane mir zu. »Keine Bettenburgen, kein TUI, kein Club Med und wie das Zeug heißt. Kein all-inklusive, und der Gastgeber ist nicht zum Hilfskellner degradiert.« Sie wies mit dem Kopf aufs Meer. »Auf der bulgarischen Seite sieht es anders aus!«
»Hoffentlich bleibt das noch lange so«, gab ich zurück.
Irgendwo im Unterholz raschelte etwas. Die Welpen?
»Das ist der Vorteil der unsicheren weltpolitischen Lage. Die fettgefressenen Westler trauen sich hier nicht her. Aber sag’s nicht zu laut.«
»Du spinnst, Juliane!«
Sie zuckte die Achseln. »Jedes Ding hat eine Menge Seiten. Auch garstige, und die Wahrheit ist eben nicht politisch korrekt.« Sie ging uns voraus, die schmale Straße hinunter ins nächste Tal.
Regenwolken robbten über die Berge. Das Licht wurde grau, als habe jemand die Sonne vom Netz genommen.
Sopo sah unglücklich zum Himmel. Fast auf Meereshöhe angekommen, blieb sie stehen und wies mit der Hand nach Westen. Vor uns führte eine Freitreppe ins grüne Nirgendwo, endete auf einer Wiese, doch der Blick reichte weiter, eine schmale Schneise zwischen spitz zulaufenden Bäumen entlang zu einer Palme, hinter der sich ein weißes Haus mit rotem Dach versteckte. Und hinter dem Dach glänzte das Meer.
Ich zückte meine Kamera, und in dem Moment geschah, was geschehen musste, was ich nicht hatte sehen wollen, und Juliane auch nicht. Was sich angebahnt hatte, weil man nicht ungestraft in den Angelegenheiten anderer Menschen schnorchelte.
Wir standen alle drei auf einem asphaltierten Weg, der weiter zum Strand führte. Links neben uns verträumte ein Bach den Tag, schnitt steil in den Hang und formte eine Schlucht aus
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