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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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30 Lari waren darin und ein Bild. Eine Frau mit einem kleinen Jungen auf dem Schoß. Außerdem ein Ausweis. Nikolosi Schotadse.
    »Warum haben Sie auf ihn geschossen?«, fragte Guga nach einer langen Weile, in der er sich die Daten auf der Karte eingeprägt hatte.
    Der Alte kramte Sonnenblumenkerne aus seiner Hosentasche und hielt sie in der flachen Hand ausgestreckt in die Sonne. Die Drossel zögerte kurz, sprang auf seine Finger und pickte.
    »Du kannst die Brieftasche behalten«, sagte Guram.

47
    Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung.
    »Helft uns, im Wald ist ein Mörder.« Ich tobte wie eine Besessene.
    Schwarze Augen richteten sich auf mich. Ich fiel auf meinen Hintern, unfähig, dem Schlenkern des Zuges standzuhalten. Eine Frau kam auf mich zu, zog mich auf den Platz neben sich und goss mir Kaffee aus einer Kanne in einen Becher. In Georgien kochten die Gefühle schnell. Man kam mit Leuten wie mir zurecht. In Deutschland hätte man längst nach den freundlichen Muskelprotzen in den Polohemden gerufen.
    Die Frau trug ein dottergelbes Kopftuch, das ihr braun gebranntes Gesicht umstrahlte wie ein Heiligenschein. Ratlose, aufgeregte Debatten rissen die Passagiere aus ihrer Lethargie. Es fand sich jemand, der deutsch sprach: ein georgischer Medizinstudent aus Hannover, der zur Beerdigung seiner Mutter in Batumi weilte.
    Schließlich kam ich auf das Nächstliegende und rief Kawsadse an. Er versprach, sogleich alle Hebel in Bewegung zu setzen. Dann wählte ich Gugas Handynummer. Er brüllte in mein Ohr wie ein Eber, dem man die Stoßzähne ziehen wollte: »Und Sopo? Wo ist Sopo?«
    »Ich habe keine Ahnung.« Ich schmiegte mich an die Schulter der Frau mit dem gelben Kopftuch.
    Der Typ hatte mich nicht erschossen, aber ohne Juliane gab es kein Leben für mich.

48
    Guga glaubte, irre zu werden. Gerade hatte er einen Teilerfolg gefeiert. Nikolosi Schotadse war der Ehemann von Isolde Weiß, die den Chor leitete, von dem er mehr als genug gehört hatte. Danach kam der Anruf von der verrückten Deutschen, und er stürzte in den allertiefsten Abgrund. Denn die Frau war ihm inzwischen ans Herz gewachsen. Nicht die Deutsche. Auch nicht die Alte. Sondern Sopo.
    Von Sagaredscho nach Batumi brauchte er eine Nacht im Zug oder viele Stunden in einer Marschrutka. Er hatte keine Ahnung, ob er einen Flieger von Tbilissi nach Batumi bekommen würde. Und wovon er das Ticket bezahlen sollte.
    Er rief Kawsadse an, außerdem seinen Vorgesetzten, damit ihm keiner einen Strick drehen konnte. Anschließend sprang er in den Streifenwagen und raste los.

49
    Juliane Lompart war immer der Meinung gewesen, dass man selbst auf der Basis einer unsicheren Informationslage fähig sein musste, eine richtige Entscheidung zu treffen. Der Grund, warum viele verdutzt zurückwichen, wenn sie erfuhren, dass Juliane 78 war, lag darin, dass ihr Wesen stets dem Zufall eine Chance gab. Für Juliane gab es keine Fixsterne. Sie war in Sekundenschnelle fähig, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. In der Wahrnehmung ihrer Mitmenschen passte dieses Talent nicht zum Alter.
    Gerade hatte es vermutlich dazu geführt, dass sie ihr Leben in Kürze dreingeben würde. Für eine bekloppte Geschichte, die ihr zu Hause keiner glauben würde. Sie hatte ohnehin kaum eine Chance, sie zu erzählen. Sie würde eine Kugel im Kopf haben und im botanischen Garten von Batumi am östlichen Ende des Schwarzen Meeres kompostieren, womöglich nicht allzu weit von der Stelle, wo Jason und die Argonauten das Goldene Vlies gesucht hatten. Besser, als im Altenheim zu verrotten, dachte Juliane, während sie in die Mündung des Revolvers starrte.
    Sopo neben ihr war zusammengeklappt. Lag im Matsch und hyperventilierte.
    Was braucht der denn so lange, dachte Juliane. Beinahe alles, was sie je über das Alter gehört hatte, erwies sich ihrer Erfahrung nach als tumb und blödsinnig. Nur eines stimmte: Die Toleranz kam einem abhanden. Unwillig warf sie einen Blick auf Sopo, deren schmaler Körper zusammengekrümmt auf den Tod wartete. Du Idiotin, dachte sie nur. Renn, wenn du kannst. Um mich ist es nicht annähernd so schade wie um dich, deine Jugend und deine Schönheit. Außerdem bist du frisch verliebt, und es würde mich sehr wundern, wenn der Held deiner Träume nicht unser milchgesichtiger Polizist aus Kachetien ist.
    Die Statistiken besagten, dass Frauen des Geburtsjahrganges 1932 eine Lebenserwartung von 62,8 Jahren besaßen. Bin längst drüber hinaus, dachte sie trotzig. Ich will

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