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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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keine Lebenserwartung, ich will ein Leben,
    Der Schuss zerriss die Stille. Juliane wirbelte herum und stürzte auf einen Busch, der die Arme nach ihr ausstreckte, und sie lächelte und dachte dabei: Ich grinse wie eine Idiotin.

50
    Ich riss an der Notbremse. Eigentlich rechnete ich damit, dass sie nicht funktionieren würde. Zudem fuhr der Zug so langsam, dass ich ohne Probleme hätte aus dem Fenster springen können. Aber ich wollte nicht springen. Ich wollte – ich hatte keine Ahnung, was ich wollte. Jedenfalls sprang ich zur falschen Seite raus und landete auf Kies, höchstens fünf Meter neben der Wasserlinie. Gierig leckte das Meer nach mir. Der Medizinstudent aus Hannover schrie mir hinterher. Ich umrundete den Waggon und stürmte über die Gleise zum Bahnhof zurück.

51
    Juliane spürte ein eigentümliches Rauschen in ihrer Brust. Ein ungewohntes Gefühl, vielleicht auch nur der Reflex ihres Atems, der sich mit dem Tod nicht abfinden wollte. Allerdings konnte sie noch zählen, und sie hatte fünf Schüsse gehört. Wenn sie eine Prognose wagte, dann würde die sechste Kugel ihr den Garaus machen. Kea war in Sicherheit, und das war es, was zählte.
    »Warum?«, fragte sie auf russisch. Wenigstens auf eine vernünftige Begründung sollte sie ein Anrecht haben.
    »Geld«, antwortete er.
    »Politik?«, fragte Juliane zurück. Ungläubig fast. Wenn sie starb, dann für Geld? Ausgerechnet Juliane Lompart? Die Anti-Kapitalistin?
    Sie sah an sich herunter. Ihr T-Shirt färbte sich dunkelrot. Die Bäume traten näher, schleuderten Wolken von Moskitos in die feuchte Luft.
    Verfluchte Scheiße, dachte Juliane. Das ist wirklich das Ende. An Statistiken hatte sie ohnehin nie geglaubt.
    Den sechsten Schuss hörte sie nicht mehr.

52
    Ich hetzte zurück. Niemand würde mich aufhalten. Ich wurde getrieben von unbändigem Hass auf mich selbst, weil ich Juliane zurückgelassen hatte, ohne zu hinterfragen, ohne zu denken, weil ich mir vor Angst beinahe in die Hosen geschissen hätte, weil ich durchgedreht war und an das Nächstliegende nicht denken konnte, oder weil ich jetzt gerade durchdrehte und etwas vollkommen Blödsinniges tat.
    Mein Herz pumpte Blut durch meinen Körper. Ich rannte, die Tasche an mich gedrückt. Nur nicht denken.
    Ich erreichte den weiß gestrichenen Bahnhof und stürmte zurück in das tropische Grün des botanischen Gartens.
    Es begann zu regnen. Fette Tropfen platschten auf den von Schlaglöchern und Pfützen übersäten Weg. Ich war klatschnass, bevor, wenige Sekunden später, der Himmel wieder aufriss und die Sonne auf mich schien, als wolle sie die Barmherzigkeit des Schöpfers bezeugen.
    Ich pfiff darauf.
    Ich pfiff auf den ganzen vermaledeiten Planeten.
    Ich wollte zu Juliane. Sie war mir kostbarer als alles in diesem Augenblick. Ich hatte nie gewusst, wie kostbar. Ich hatte gar nichts gewusst und nichts verstanden.
    Keuchend lief ich den Berg hinauf, erreichte die Stelle mit dem Baumstamm, der sich über das Bachbett gelegt hatte, und blieb stehen, damit mein Atem mich einholen konnte.
    Ein Schuss.

53
    Guga staunte nicht schlecht, wie schnell sich Dinge lösen ließen, wenn die richtigen Leute an den richtigen Strängen zogen, ohne sich zuvor endlosen Diskussionen hinzugeben. Während er nach Tbilissi raste, rief Kawsadse ihn zurück und bat ihn, zum Flughafen zu kommen.
    Guga jagte über die vierspurige Straße. Er verstand nicht ganz, warum sie ihn dazuholten. Im Prinzip war er ein Nichts. Ein simpler Verkehrspolizist aus Kachetien, der ein paar Schlüsse gezogen hatte. Einer, der sich meistens anderswohin wünschte, weil er glaubte, dass es überall besser sei, als an dem Ort, wo er gerade war.
    Kawsadse rief wieder an und forderte ihn auf, sich zu beeilen.
    »Was ist mit Isolde Weiß?«, fragte Guga und brauste die Zufahrt zum Airport entlang. Was für ein kleiner Flughafen. Hübsch gebaut, beschaulich. Kein Ort für quietschende Reifen und jaulende Sirenen. Die Hauptstadt lag im Dunst. Der Fernsehturm ragte daraus hervor wie eine Stricknadel.
    »Wird gerade verhaftet.«
    Ich packe es nicht, dachte Guga. Es geht mal was. Er ahnte, wer hier das Tempo vorgab.
    »Die deutsche Botschaft …«
    »Vergessen Sie die Diplomaten, verdammt!«, knurrte Kawsadse.
    Mannomann, der hat Druck, dachte Guga und hielt neben der Taxispur vor dem Eingang zur Abflughalle. Da stand Kawsadse und hielt nach ihm Ausschau.

54
    Ich traute meinen Augen nicht. Der Typ mit der Knarre lag zusammengekrümmt auf dem

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