Westfalenbraeu - Ostwestfalen-Krimi
Lioba Keller. Therese nahm die Kamera herunter und sah genauer hin. Es war unverkennbar ihre fleißige Nachhilfeschülerin – die glatten blonden Haare um das schmale Gesicht, die großen Augen. Was machte Lioba denn hier? Sie trug ein weißes Kleid, das viel Haut sehen ließ. Wenn das herauskam, würde es bestimmt Ärger mit ihrer Familie geben. Lioba kam aus einer streng religiösen Aussiedlerfamilie. So lasterhafte Vergnügungen wie die Liborikirmes schloss deren Erziehung kategorisch aus.
Stieglitz näherte sich dem Tisch, an dem Lioba saß. Klar – er war Liobas Chef. Anscheinend hatte er sein ganzes Büro auf den Berg geschleift. Er quetschte sich zwischen Lioba und eine kräftige junge Frau mit punkigen schwarzen Stachelhaaren, die Therese auch irgendwie bekannt vorkam. Der junge Mann mit Schlips setzte sich an Liobas rechte Seite. Therese machte ein paar Fotos von der Gruppe. Vielleicht wollte Lioba ein paar Erinnerungsfotos.
Doch Lioba schaute vor sich auf den Tisch und nicht auf Stieglitz, wie es die Stachelhaarige zu seiner Rechten tat. Die lachte nach jedem seiner Sätze. Therese holte mit dem Zoom Stieglitz’ Gesicht heran. Das dunkle Muttermal in seiner rechten Nasenfalte hüpfte bei jedem Wort auf und ab.
Lioba machte nicht gerade einen glücklichen Eindruck. Das mochte am Arm des Chefs liegen, den er über ihre halb nackten Schultern gelegt hatte. Es war wohl väterlich gemeint, doch Lioba machte sich noch kleiner, als sie schon war. Therese konnte sich vorstellen, was in ihrem Kopf vorging: Wenn das jemand sieht …
Stieglitz reichte Lioba ein Schnapsglas und prostete ihr zu. Sie nickte und stellte das Glas ab, ohne zu trinken. Vor ihr standen schon zwei randvolle Gläser. Ein Chef, der seine Angestellten erst abfüllte und dann vernaschte. Davon hatte Lioba Therese nie etwas erzählt.
Der junge Mann an Liobas anderer Seite starrte durch seine randlose Brille auf drei leere Gläser. Sein gewelltes blondes Haar war gerade so lang, dass es attraktiv und nicht ungepflegt wirkte. Eine Locke fiel ihm in die Stirn.
Therese richtete ihre Kamera auf die übrigen Tische. Wo es hoch herging, hielt sie drauf, ganz im Stil eines Sensationsreporters. Sie erwischte den Münchner Erzbischof Marx, wie er sich mit einem kardinalsroten Fächer Luft zufächelte. Der frühere Paderborner Weihbischof war ein lebenslustiger Mann und ein beliebtes Motiv. Er verhielt sich, als merkte er nicht, dass sämtliche Objektive auf ihn gerichtet waren.
Von Lioba sah Therese nur noch ihren weißen Rücken. Ein oranger Ledergürtel mit Lochmuster hielt ihr tunikaartiges Kleid zusammen. Stieglitz redete auf sie ein, sie schüttelte mehrfach den Kopf. Nach einigen Minuten stand sie auf und drängte sich durch die eng stehenden Bänke zum Ausgang. Stieglitz sah ihr nach. Dann forderte er mit einem Kopfnicken den jungen Mann auf, dem Mädchen zu folgen. Machte er sich Sorgen um Lioba? Oder sollte der Kollege sie dazu bringen, länger zu bleiben?
Kurz nach Liobas Abgang verließ auch Therese die Almhütte. Sie umkreiste mehrere Losverkäufer, die sich mit Bauchläden dreist in ihren Weg stellten. Vor den großen Fahrgeschäften ballten sich die Zuschauer, die sich selbst nicht in die rasenden Gefährte hineintrauten, aber von unten den Kitzel genossen. Winkende Arme und begeisterte Rufe flogen, wenn Bekannte und Verwandte in riskanter Schnelligkeit vorüberrasten. Therese wurde es schon vom Zusehen schwindelig.
Im Kettenkarussell entdeckte sie Lioba wieder. Sie hatte den Kopf weit zurückgeworfen und ließ sich – himmelhoch oben – von dem jungen Kollegen um die eigene Achse drehen. Unter dem weißen Rock, den der Fahrtwind bauschte, schwangen ihre gebräunten Beine durch die Luft. Eine ganz normale junge Frau war sie jetzt, die mit einem gut aussehenden Mann Spaß hatte. Dessen Schlips war verschwunden, das weiße Hemd stand offen. Bestimmt war er einer vom Bau. Er war braun gebrannt und schlank, hatte aber kräftige Schultern und lange, muskelbepackte Beine. Ein Ingenieur wahrscheinlich, der sich nicht scheute, selbst zuzupacken.
An einem Saftstand holte sich Therese einen Pampelmusensaft. Manchmal entdeckte sie Bekannte in der Masse, aber nicht allzu oft – der Liborisamstag war der Tag der Touristen und des Kirchenvolks.
Letzteres schien besonders den Autoskooter zu lieben, an dessen Rand weiß gekleidete Ordensfrauen und ein paar dunkelhäutige Priester die Fahrenden anfeuerten. Bunte afrikanische Gewänder
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