Das Haus am Lake Macquarie
PROLOG
C elia schlief noch halb, als das Telefon klingelte. Sie öffnete die Augen und blickte den Radiowecker auf dem Nachttisch an. Es war erst zehn nach acht, nicht besonders früh. Aber es war Sonntag. Und jeder, der Celia kannte, wusste, dass sie sonntags gern ausschlief. Es musste also einen guten Grund für diesen Anruf geben.
“Bestimmt ist es Mum.” Celia schlug die Decke zurück und nahm den Hörer ab.
“Hallo?”
“Er ist tot.” Die Frau am anderen Ende der Leitung klang wie benommen.
Die Anruferin war tatsächlich ihre Mutter. Ruckartig setzte Celia sich auf. Ohne zu fragen, wusste sie genau, wer “er” war. In Jessica Gilberts Leben gab es nur
einen
Mann: Lionel Freeman, den berühmtesten Architekten Sydneys. Er war vierundfünfzig Jahre alt, verheiratet und hatte einen erwachsenen Sohn, Luke. Celias Mutter war seit vielen Jahren Lionel Freemans Geliebte.
“Was … was ist denn passiert?”, fragte Celia wie benommen und räkelte sich ausgiebig.
“Er ist tot”, wiederholte ihre Mutter nur.
“Ist er … ist er bei dir? Ich meine, hat Lionel dich dieses Wochenende in Pretty Point besucht?” Celia versuchte, ruhig zu bleiben. Sie hoffte inständig, dass Lionel nicht gestorben war, während er und ihre Mutter sich geliebt hatten. Schließlich besuchte er seine Geliebte, um Sex zu haben – und sicher nicht zu selten.
“Nein. Er wollte herkommen, aber dann kam ihm etwas dazwischen.”
Celia war zwischen Wut und Erleichterung hin- und hergerissen. Ihre Mutter hatte praktisch das ganze Leben damit verbracht, auf ihren verheirateten Geliebten zu warten. Damit hatte es jetzt endgültig ein Ende – aber zu welchem Preis?
“Sie haben es in den Radionachrichten gesagt”, sagte Jessica mit ausdrucksloser Stimme.
“Was wurde im Radio gesagt, Mum?”, fragte Celia geduldig.
“Dass Lionel den Unfall nicht verursacht hat. Der Fahrer des anderen Wagens war schuld. Er war betrunken.”
Also ein Autounfall, dachte Celia. Sie verspürte kein Mitleid mit Lionel Freeman, sondern nur mit ihrer Mutter. Jessica Gilbert hatte alles für die kurzen, glücklichen Momente mit ihm geopfert. Sie hatte Lionel mehr geliebt als ihr Leben, mehr als alles andere auf der Welt. Doch jetzt war er tot. Und seine verzweifelte Geliebte war ganz allein in dem geheimen Liebesnest, wo sie auf Wunsch des egoistischen Lionel seit einigen Jahren lebte.
Celia hatte Angst, dass ihre Mutter eine Dummheit begehen könnte, sobald sie wirklich begreifen würde, was geschehen war. Jessica hatte Lionel Freeman bereits zwanzig Jahre ihres Lebens geopfert. Aber sie, Celia, würde nicht zulassen, dass er ihre Mutter mit in den Tod nahm.
“Mum, du machst dir jetzt erst mal eine Tasse Tee”, sagte sie energisch. “Und rühr ganz viel Zucker hinein. Ich bin sofort bei dir.”
Zum Glück wohnte sie in Swansea, nicht weit entfernt von Pretty Point. Mit ihrem sportlichen kleinen Wagen war sie normalerweise in etwas mehr als einer halben Stunde dort. Doch diesmal brauchte sie nur dreiundzwanzig Minuten. Zum Glück waren die Sonntagsausflügler aus Sydney noch nicht unterwegs. Sie würden die Straßen erst wieder bevölkern, wenn es in einigen Monaten richtig warm wurde.
Celia klopfte, doch es kam keine Antwort. Voller Angst trommelte sie gegen die verschlossene Hintertür. “Mum!”, rief sie. “Mum, lass mich rein!”
Niemand öffnete. Der Magen zog sich ihr zusammen, als sie zur Vorderseite des Hauses ging. Celia rechnete bereits mit dem Schlimmsten, als sie ihre Mutter an einem Tisch auf der Terrasse sitzen sah, von der aus man einen wunderschönen Blick auf den See hatte. Im Gegenlicht der untergehenden Sonne sah Celia das feine Profil und die rötlich-goldenen Locken ihrer Mutter. Jessica trug ein zartgelbes Seidenkleid, das ihre schmale Taille betonte. Sie sah wunderschön aus und wirkte aus dieser Entfernung sehr jung.
Und sehr lebendig, dachte Celia erleichtert. Sie rannte die hölzernen Stufen hinauf zur Terrasse. Jessica blickte auf. Ihre sonst so ausdrucksvollen Augen wirkten merkwürdig leer. Der Tee stand unberührt vor ihr. Sie steht unter Schock, stellte Celia fest, ließ sich aber nichts anmerken.
“Mum”, sagte sie sanft und setzte sich neben sie. “Du hast deinen Tee ja gar nicht getrunken.”
“Was? Ach so … das habe ich ganz vergessen.”
Celia beschloss, ihre Mutter so schnell wie möglich von Pretty Point weg und an einen Ort zu bringen, wo sie ständig unter Aufsicht wäre. Am liebsten hätte sie
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