Whitley Strieber
ihrer Möglichkeiten angelangt. Entweder sie fand jemanden, oder sie würde der Welt niemals einen neuen Hüter schenken.
Hüter-Kindern wurde beigebracht, dass Menschen so gezüchtet wor- den waren, dass sie Hütern ähnlich sahen; so konnten Hüter sich freier unter ihnen bewegen. Anfangs hatten Menschen überhaupt keine Ähn- lichkeit mit uns und waren nicht besonders klug. Sie waren kleine haa- rige Affen mit riesigen Zähnen. Wir Hüter dagegen waren schon immer so, wie wir sind, nämlich unvergleichlich schön.
Miriam hatte angefangen, sich menschliche Gefährten zu nehmen, da sie sich einsam fühlte und Menschen befriedigend waren und sie keine starken emotionalen Bindungen eingehen musste. Man fand ein hübsches männliches oder ein sinnliches weibliches Exemplar – das Geschlecht war Miriam gleich, beide hatten ihre Vorzüge – und be- gann, es mit liebkosenden Blicken und zarten Berührungen zu verfüh- ren. Dann versetzte man es in einen Hypnose-Schlaf, öffnete eine Vene und träufelte das eigene Blut in den Auserwählten. Danach ge- schah Magisches: Der Mensch schien jahrelang nicht zu altern. Man erzählte ihm, man hätte ihn unsterblich gemacht, worauf er einem wie
ein kleiner dummer Hund folgte. So wie das geliebte Geschöpf, das ihr Haus in Ordnung hielt und ihre New Yorker Geschäfte führte, das ihr Bett wärmte und mit ihr auf die Jagd ging ... das liebenswerte, hochin- telligente Geschöpf, dem noch immer seine dummen menschlichen Konflikte zu schaffen machten. Vor einigen Jahren hätte sie Sarah bei- nahe verloren, aber sie hatte sie zurückbringen können. Die Frau sollte eigentlich dankbar und willfährig sein, doch dies war nicht immer der Fall. Sarah machte Fehler. Sarah lebte viel zu gefährlich. Es quälte sie, was sie hatte erleben müssen, und Miriam konnte es ihr nicht ver- denken. Tatsächlich konnte sie sich kaum vorstellen, wie es war, in ei- nem Sarg zu liegen und langsam zu verfallen, ohne sterben zu kön- nen.
Sarah wusste, dass sie diese unsäglichen Qualen eines Tages von neuem erleben würde. Sie tat alles nur Erdenkliche, um sich zu retten, und nutzte ihr beträchtliches medizinisches Wissen, um den Alterungs- prozess zu stoppen, der sie trotz des Umstands, Miriams Blut in den Adern zu haben, langsam, aber sicher dahinraffte.
Um leben zu können, musste Sarah Menschen jagen. Es machte ihr sogar noch mehr zu schaffen als Miriams früheren Gefährten. Es war der Eid des Hippokrates, der der armen Frau so auf der Seele lastete. Miriam beließ es dabei. Es war besser, nicht über diese Dinge nach- zudenken. Es tat ihr weh, das qualvolle Dasein und die schrecklichen Tode ihrer menschlichen Gefährten miterleben zu müssen. Aber die le- ckeren kleinen Dinger waren nun mal ihre Schwäche und der Grund für ihr ewig schlechtes Gewissen.
Aber dafür war jetzt keine Zeit, nicht in dieser für sie so wichtigen Nacht, der Eröffnungsnacht des Asiatischen Konklave. Ein Mann aus ihrer eigenen Rasse würde wenigstens niemals sterben, so wie die Menschen es taten und dabei um Erlösung winselten, während ihr Fleisch langsam zu Staub zerfiel. Allerdings musste sie sich ihrem neuen Mann unterwerfen, musste ihm bedingungslos gehorchen und in seiner schäbigen Behausung wohnen ... wenigstens eine Zeit lang. Ihr Körper war ihr Leben – seine hoch sensiblen Sinne, sein wildes Begehren, das prickelnde Gefühl, wenn starke oder zarte Hände über ihre schauernde Haut glitten ...
All das würde es in Zukunft nicht geben, nicht solange sie zumindest für die Dauer der Schwangerschaft in einem ihrer Haushalte lebte. Lange schweigsame Tage, furchtsame, schaurige Nächte – so würde ihr Leben aussehen: hinter den düsteren Gemäuern ihrer Welt.
Aber anders ging es nicht. Sie konnte das kleine Wesen fast schon im Bauch spüren, stellte sich vor, wie sie es nach der Geburt in den Arm nahm, während es noch klitschnass und brennend heiß war. Nur bei Neugeborenen oder Hütern, die gerade gespeist hatten, stieg die Körpertemperatur so hoch.
Das samlor fuhr durch die Moon Muang Road, in Richtung des Ta- pae-Tors und des dahinter liegenden Tempel-Distrikts. Es war noch immer schwül und brütend heiß. Wie konnten die Asiaten ein so fürch- terliches Klima ertragen? Andererseits war die Hitze auch schön. Ihr gefielen durchgeschwitzte Bettlaken und heiße, drogenvernebelte Nächte, in denen sie alle nur denkbaren dekadenten Dinge tat. Die Anderen lehnten Drogen ab. Sie sagten, sie würden
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